«Stabilität hilft heilen.»
Interview mit Rolf Widmer, operativer Leiter tipiti
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert an. Seit Herbst 2022 zeichnet sich klar ab, dass die geflüchteten Ukrainer·innen für längere Zeit bei uns leben werden. Wir haben den tipiti Leiter Rolf Widmer gefragt, was das für die neun ukrainischen Pflege-Grossfamilien mit zusammen 88 Kindern bedeutet, die tipiti letztes Frühjahr in Rehetobel AR und Gilly VD untergebracht hat – mit der Unterstützung von SOS-Kinderdorf Schweiz und anderen Gönner·innen.
Im Newsletter vom Herbst 2022 schrieben wir, bis diesen Frühling sollten für alle Familien individuelle Wohnlösungen gefunden sein. Wie ist der Stand?
Rolf Widmer: Wir hoffen, dass demnächst alle Familien ihren eigenen Wohnraum haben und wir das Zentrum «Ob dem Holz» in Rehetobel auflösen können. In Gilly wird es noch etwas dauern. Es ist kompliziert, passenden Wohnraum für die jeweils neun- bis zwölfköpfigen Familien zu finden. Einzelne Familien sind schon in Häuser umgezogen. Bei einer anderen Familie zum Beispiel mit einem Kind im Rollstuhl suchen wir noch eine Lösung. Wohnraum ist allgemein knapp.
Es geht aber wohl bei der Integration der Ukrainer·innen nicht nur um Wohnraum?
Weit darüber hinaus, selbstverständlich. Die Phase der Nothilfe ist vorbei. Jetzt, in der Integrationsphase, geht es für sie darum, ein «normales» Familienleben zu gestalten. Dazu braucht es eine gute Vernetzung mit Menschen in ihrem Umfeld. Die kleine tipiti-Volksschule in Rehetobel, die wir einrichten mussten, haben wir schon geschlossen; alle Lernenden sind in die öffentliche Schule integriert. Jetzt unterstützen wir sie darin, durch Freizeitaktivitäten Kontakte zu Gleichaltrigen und Mentor·innen aus der Zivilbevölkerung zu finden, die den Familien und Kindern ein erweitertes Netz verlässlicher Beziehungen ermöglichen.
Braucht es zusätzliche Unterstützung, damit die Kinder die Regelschule bewältigen?
Einzelne Kinder brauchen Unterstützung in Deutsch. Andere sind auf weitere Förderung angewiesen. Gerade der Kanton AR ist jedoch gut auf eine heterogene Schülerschaft vorbereitet, setzt er doch seit langer Zeit erfolgreich auf ein integratives Schulsystem. Wir werden jede Familie weiter eng begleiten und unterstützen, damit wir gemeinsam für jedes einzelne Kind ein entwicklungsförderndes Umfeld ermöglichen können. Dazu gehört auch das Verarbeiten von Traumata. Unser Ansatz ist ein möglichst stabilisierender Alltag; die Kinder und Jugendlichen sollen Erfolgserlebnisse haben und Dinge tun, die sie gut können. Sie sollen nicht nur mit ihrem «Defizit» konfrontiert werden, sondern trotz viel Verlust, ohne leibliche Eltern in einem anderen Land, Krieg in der Heimat und ihren eigenen Entwicklungsschritten, ein positives Umfeld erleben können. Es gilt zu schauen, welche Resilienzfaktoren einem Kind zu einer positiven Sicht verhelfen und sein Selbstvertrauen stärken können. Jedes Kind soll spüren, dass es ernst genommen und dass auf seine Interessen Rücksicht genommen wird.
Besucht jedes Kind eine Traumatherapie?
Ab und zu muss man auch therapeutische Hilfe beziehen. Nicht alle Kinder brauchen therapeutische Unterstützung, aber jedes Kind benötigt einen Ort, wo es seine Sorgen teilen kann. Falls ein Kind sich niemandem anvertrauen kann, muss man schauen. Wir müssen den Kindern möglichst viel Stabilität ermöglichen: Stabilität hilft heilen. Wenn alles nicht reicht, weil das Kind zu stark verunsichert ist, braucht es vielleicht einen Schonraum, wo es langsam lernen kann, Trauer und Schmerz zuzulassen, z.B. an einem therapeutischen Ort. Jedoch gibt es wenige Traumatherapie-Spezialist·innen in der Schweiz, deshalb fördert tipiti auch im Bildungsprogramm für die betreuenden Bezugspersonen traumabezogenene Themen.
Wie gehen die ukrainischen Familien mit ihrer Situation um?
Wir hören von ihnen natürlich viel von Trauer und Ohnmacht gegenüber dem, was in ihrem Land geschieht. Auf der anderen Seite hören wir von ihnen Sätze wie: «Wenn wir schon hier sind, wollen wir den Kindern eine gute Kindheit und Perspektiven für eine positive Zukunft ermöglichen.» Eine Pflegemutter äussert es so: «Die Schweiz hat uns einen unglaublichen Empfang bereitet! Es geht langsam besser, die Kinder weinen weniger. Wir sind für die Sicherheit, die die Schweiz ermöglicht, dankbar. Gleichzeitig besteht die Ungewissheit: Wenn der Status S aufhört, was passiert dann mit uns?»
Interview: Thomas Graf, kommunikationsberater.ch