Rolf Widmer im ausführlichen Interview
Fotos: Gessica D'Ancicco, Stephan Herzer und Mitarbeitende im Zentralsekretariat in Wil.
Wie sich tipiti für die Zukunft rüstet.
Rolf Widmer ist operativer tipiti-Leiter und war 1976 der Initiator des damaligen Vereins Heilpädagogische Grossfamilien und Kleingruppenschulen (VHPG), der sich 2006 in Verein tipiti umbenannte. Auf das 50-Jahr-Jubiläum im Jahr 2026 wird er sich aus der Leitung zurückziehen. Tipiti durchläuft derzeit eine Neuorganisation der Leitung, um sich für diesen wichtigen Schritt des Vereins zu wappnen. Wo die Überlegungen stehen und wie sich das tipiti-Leitungsteam heute präsentiert, schildert Rolf Widmer im Gespräch.
Ende März 2024 aufgezeichnet von Thomas Graf, hier in einer viel ausführlicheren Version als im gedruckten Jahresbericht
Was ist für dich die DNA von tipiti, das Grundlegendste?
Rolf Widmer: Dass das Kind immer im Zentrum steht. Unser 'Auftraggeber' ist in erster Linie das Kind mit seiner Lebensgeschichte und seinen Entwicklungsbedürfnissen. In einer gut funktionierenden Familie sind das Wohlergehen und die positive Entwicklung der Kinder auch stets eine zentrale Aufgabe.
Wenn wir von der Organisation sprechen: Was ist die Konsequenz daraus, dass ihr das Kind so konsequent ins Zentrum stellt?
Dass wir sie so gestalten, dass die Kinder im Zentrum stehen. Wir sind dezentral in übersichtlichen Einheiten organisiert. Wir trennen den pädagogischen Auftrag von den finanziell-administrativen Belangen. Obwohl wir uns zu einer grossen Organisation entwickelt haben, versuchen wir durch eine flache Hierarchie und in übersichtlichen Facheinheiten sicherzustellen, dass sich die Mitarbeitenden und die Kinder/Jugendlichen in ihrer Einheit kennen und ein direkter Dialog möglich ist.
Die zentralen Dienste unterstützen die Betreuungs- und Förderungseinheiten in finanziell-administrativen Belangen. Es ist uns wichtig, dass sich unsere Mitarbeitenden möglichst wenig mit Geldfragen beschäftigen müssen, sondern sich auf ihre Tätigkeit mit dem Kind oder Jugendlichen konzentrieren können.
Ihr habt im letzten Jahr einen grundlegenden Prozess durchlaufen, da du ja angekündigt hast, spätestens 2026 als Leiter zurückzutreten. Erzählst du uns, wie ihr vorgegangen seid?
In erster Linie ging es um die Frage, wie sich die Organisation weiterentwickeln soll. Als wir sie damals initiierten, gestalteten wir sie bewusst so, dass wir möglichst wenig Fixkosten produzieren, um auf neue Herausforderungen sehr flexibel reagieren zu können. Ich stellte mir damals vor, dass es uns irgendwann nicht mehr benötigen wird, da sich unsere Gesellschaft positiv verändert. Leider muss ich feststellen, dass es uns heute noch mehr braucht als in den Anfängen.
In unserer Organisationsentwicklung ist es vorab darum gegangen, Menschen mit den Grundwerten zu finden, die sich am Wohlergehen und an den Bedürfnissen des Kindes und nicht an Rahmenbedingungen orientieren, die der Entwicklung junger Menschen nicht förderlich sind. Natürlich werden sich dann wieder neue Situationen zeigen, auf die man wird reagieren müssen, aber der Grundwert ‘Kind im Zentrum’ war und ist die Bedingung, dass sich die Organisation auf diese Art weiterentwickeln kann.
Wo steht ihr jetzt?
Es gab bisher eine operative Leitung als Mitglied der Geschäftsleitung. Jetzt soll die Leitung zu einem Dreierteam erweitert werden. Ein Leitungsmitglied koordiniert den Fachbereich 'Lebensräume' und ein zweites den Fachbereich 'Förderangebote', die Schulen usw.. Wichtig ist, dass die Fachbereichsleitenden für ihre Mitarbeitenden und die Anliegen der Kinder und Jugendlichen Zeit haben. Und drittens bauen wir die 'Zentralen Dienste' aus; sie sollen von einer betriebswirtschaftlichen Fachkraft geführt werden. Diese gehört zum Leitungsteam, soll aber eine unterstützende Rolle für die Fachbereiche einnehmen. Das ist das Wunschszenario.
Die zwei Leitungspersonen für die beiden Fachbereiche haben wir mit Gessica D’Ancicco (wobei ich im Moment noch für die 'Lebensräume' zuständig bin, bis Gessica mehr Kapazität frei hat) und Stephan Herzer bereits gefunden. Die passende Leitung ‘Zentrale Dienste’ sind wir noch am Suchen.
Die beiden arbeiten schon im Leitungsteam mit. Du bist noch der operative Leiter. Was ist hier der Plan?
Die Idee ist, dass ich 2024 noch operativer Leiter bin, und dass ich ab 2025, wenn das Leitungsteam dann fest gebildet ist, in die Rolle eines Coachs gehe und es bei der Übernahme der Führung unterstütze. Die beiden Leiter der Bereiche Pflegefamilien und Jugendliche/junge Erwachsene, Patrick Horber und Donat Rade, bleiben in ihren Funktionen analog den Schulleiter·innen; sie sollen sich vermehrt auf ihre inhaltlichen Leitungsaufgaben konzentrieren können, während das dreiköpfige Leitungsteam sich um die Führung und Entwicklung der Gesamtorganisation kümmern soll. Gleichzeitig bleiben die beiden Fachbereichsleitenden auch in ihrer jetzigen Tätigkeit: Stephan bleibt Schulleiter in Wil und Gessica Leiterin des Bereichs ukrainische Pflegefamilien.
Bisher standest du als Leiter stark in der Entscheidungsverantwortung. Wie soll sich das entwickeln, wenn du zurücktrittst?
Der Wunsch ist, dass sich die Verantwortung mehr verteilt. Es ist selbstverständlich ein Unterschied, ob du so etwas aufbaust und langsam hineinwächst, oder ob du von aussen kommst und plötzlich eine solch grosse Organisation übernehmen musst.
Du bist – zusammen mit anderen – der Initiator des damaligen VHPG, heute Verein tipiti. Was ist dein Verständnis von tipiti heute?
Für mich ist tipiti eine Plattform, wo sich sehr viele Menschen treffen, denen es ein Anliegen ist, wie sie das Kind fördern und begleiten können. Sicherheit geben, individuelle Förderung, eigener Gestaltungsraum und an jedes Kind glauben zu können, sind wichtige Werte. Tipiti hat das Glück, sehr vielen Menschen zu begegnen, die mit uns zusammen diesen Weg gehen möchten – und wenn dieser Spirit bleibt, kann sich vieles verändern und es wird sicher gut weitergehen.
Kannst du dir tipiti ohne dich vorstellen?
Ja sicher. Ich denke, jeder muss sich in dem Moment einbringen, in dem er aktiv sein kann, und dann auf die Fähigkeiten der nächsten Generation vertrauen. Ich glaube, dass es immer Menschen gibt, die am persönlichen Wachstum von Kindern in besonderen Lebenssituationen interessiert sind und sich für sie engagieren möchten. Ich wünschte mir, dass das neue Leitungsteam nicht mehr institutionalisiert als nötig.
Woraus wächst dieses Credo eigentlich? Struktur kann ja auch helfen, dass eine Organisation freier arbeiten kann.
Je mehr Regeln du triffst, desto weniger kannst du auf die individuelle Situation eines Kindes reagieren. Ich stelle es mir immer so vor: In einer gut funktionierenden Familie sind die Eltern sehr darum bemüht, dem Kind den Lebensraum zu geben, der ihm hilft, sich persönlich bestmöglich zu entwickeln. Das Gleiche soll tipiti leisten können, unabhängig von Status und Herkunft der Kinder und Jugendlichen. Ich denke, Regelungen sind da eher hindernd. Klar ist das eine Herausforderung für die Mitarbeitenden, die hier tätig sind, sie können sich weniger an einer Organisationsstruktur orientieren. Aber das ist vielleicht auch das Besondere an tipiti, und es fühlen sich Leute zu unserer Vorgehensweise hingezogen, die das auch ertragen. Es gibt genügend strukturierte Institutionen, Heime zum Beispiel, da sind sie eher ans bestehende Haus und ihre Rahmenbedingungen gebunden und das Kind muss sich an die vorgegebenen Sturkuren anpassen.
Dem Kind gerecht zu werden heisst, dass es Menschen gibt, die auf das Kind eingehen und nicht auf Strukturen fixiert sind. Das heisst nicht, dass wir keine Strukturen haben, wir haben natürlich auch unsere Regelungen, aber eigentlich ist es wichtig, dass jede Familie, Lehrer sich so einsetzt, wie sie es für ihre eigenen Kinder tun würden, dann stimmt es meistens auch für Kinder und Jugendliche mit besonderen Lebensläufen. Auch bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sage ich, wir müssen ihnen so begegnen, wie wir es auch gerne hätten. Es gibt in Institutionen sehr oft ein Machtgefälle, eine klare Trennung zwischen Mitarbeitenden und den Klienten. Ich finde, wir müssen dem Kind oder Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen.
Du hast gesagt, es wäre wünschbar, dass es tipiti nicht mehr bräuchte. Und du stellst fest, dass es tipiti sogar mehr braucht. Woran machst du das fest?
Ich denke, das ist ersichtlich, wenn man die Entwicklungen unserer heutigen Welt anschaut. Wir waren bis 2015 vor allem für Kinder und Jugendliche tätig, die mehrheitlich in der Schweiz aufgewachsen sind. Als dann die sozialen Brennpunkte sich mit den vielen Geflüchteten vor dem Krieg in Syrien, Afghanistan und anderswo akzentuierten, fragten wir uns, wie sich tipiti mit seinem fachlichen Know-How und seinen Visionen für diese Menschen engagieren kann. Ich bin persönlich sehr froh, durften wir für den Kanton Appenzell AR die Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen (MNA) übernehmen und in der Praxis zeigen, dass es möglich ist, dass junge Menschen mittels einer durchgehenden Begleitung und verlässlichen Beziehungsnetz mit Menschen, die an sie glauben, Möglichkeiten haben, sich positiv zu entwickeln. Ich bin stolz darauf, dass 95 Prozent unserer Jungs es schaffen, eine Ausbildung zu absolvieren. Wenn ich es mit anderen Kantonen vergleiche, sehe ich, was uns gelingt, nicht weil unsere Jugendlichen besser sind, sondern weil unser Engagement für sie stimmiger ist.
Auch nach dem Aggressionskrieg Russlands in der Ukraine wurdet ihr sofort aktiv.
Da ich schon früher durch mein Engagement beim Internationalen Sozialdienst (SSI) in der Ukraine tätig war, machte mich der Krieg dort speziell betroffen. Kollegen, mit denen ich bereits gut zusammengearbeitet hatte, kamen auf uns zu, da sie vorübergehende Lebensräume für Pflegekinder-Grossfamilien suchten. Ich sagte spontan: Ja, tipiti engagiert sich. Gewisse Kollegen bei tipiti fühlten sich dabei ein wenig überfahren. Ich danke jedoch allen meinen Kollegen, die sich trotzdem aktiv für eine gute Integration eingesetzt haben.
Gab es also auch Konflikte?
Beim Ukraineprojekt, ja, bei den MNA nicht. Es gab Kollegen, die fanden, diese Pflegeeltern hätten nicht das Profil, das wir von unseren Pflegeeltern erwarten. Es wurde gefordert, für die ukrainischen Pflegefamilien einen eigenen Verein zu gründen. Meine Meinung war aber, genau weil sie nicht den gleichen Standard haben, bräuchten sie unsere Unterstützung doppelt.
Ein anderes Feld war die Schule im Asyl-Erstaufnahmezentrum des Bundes (BAZ) in Altstätten: Hier können wir die Visionen einer ganzheitlichen Begleitung und Förderung nicht umsetzen. Wir haben uns lange überlegt, ob diese Schule ein Feld für tipiti sei. Denn das Spezielle an tipiti ist: Wenn wir bei einem Kind oder Jugendlichen A sagen, sagen wir auch B für eine langfristige Begleitung auf seinem Lebensweg. Das können wir bei diesen Kindern und Jugendlichen in der BAZ-Schule nicht. Die Frage für uns war, welchen Mehrwert wir mit dieser Schule den ankommenden Jugendlichen bieten können. Dieser liegt in der Art, wie wir die Schule führen: Wir bieten den Jugendlichen in ihrer unsicheren Lebenssituation eine Oase, einen Schonraum. Die Mitarbeitenden der BAZ-Schule von tipiti lösen diese Aufgabe brilliant. Für mich bleibt diese Aufgabe für tipiti aber etwas unbefriedigend, weil wir keine Verantwortung für den weiteren Lebensweg der Kinder und Jugendlichen übernehmen können. Wir haben keinen Einfluss; plötzlich kann es heissen, der Jugendliche sei jetzt achtzehn und dürfe nicht mehr in die Schule oder werde in einen anderen Kanton oder ein anderes Zentrum umplatziert oder von der Schweiz weggewiesen, ohne die persönliche Situation der Kinder/Jugendlichen zu berücksichtigen.
Wir haben das Wachstum angesprochen. Wie konnte tipiti das verkraften, hat das gewisse Einheiten auch überfordert?
Eindeutig, das System wurde überfordert, vor allem in der Leitung und in den Zentralen Diensten. Wir sind eigentlich nur nach aussen gewachsen, administrativ mussten wir es einfach bewältigen. Das hat schon Kräfte gekostet. Ich kann seit meiner Pensionierung beim Internationalen Sozialdienst mehr aktive Präsenz zeigen. Wir bewältigten die gesamte Administration mit zwei 100-Prozent-Stellen, 1.4 Stellen in der Buchhaltung und 90 Prozent in der Personaladministration. Jetzt haben wir die Buchhaltung ausgebaut auf ein Dreierteam mit zusammen zweihundert Prozenten. Bei der Personaladministration sind wir daran, das Pensum auf 140 Prozent zu erhöhen.
Dieses Wachstum musste ja auch finanziert werden. Wie bringt man ein Jahresbudget von 14 Millionen zusammen?
Tipiti finanziert sich zu etwa 93 Prozent über kantonale Leistungsaufträge. Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit mit den Kantonen Appenzell-Ausserrhoden und St. Gallen, die Leistungsaufträge werden immer bedarfsgerecht ausgehandelt.
Welcher Anteil fällt auf St. Gallen und wieviel ist es bei Appenzell-Ausserrhoden?
Ungefähr gleich viel. Dann gibt es jeweils wieder neue Aufgaben wie kürzlich das Ukraine-Projekt, für das wir einen finanzstarken Partner suchten, SOS-Kinderdorf Schweiz. Sie unterstützten uns die ersten zwei Jahre, bis wir mit den Kantonen AR und VD aushandeln konnten, dass sie eine mehr oder weniger kostendeckende Finanzierung der Basisleistungen ermöglichen. Wir unterstützen die Auftraggeber, eine öffentliche Aufgabe im Interesse der Kinder wahrzunehmen. Wir mussten uns zum Beispiel dafür einsetzen, dass die ukrainischen Pflegekinder gleich behandelt werden wie einheimische Pflegekinder. Die Pflegeeltern sind jetzt bei uns angestellt und es gibt ein tipiti-Fachteam zu ihrer Begleitung wie auch in unseren anderen Pflegefamilien-Angeboten.
Seid ihr auf Spenden angewiesen?
Sind wir immer wieder. Das 'Alltagsleben' ist zwar über die Kantone gesichert. Was aber spezielle Bedürfnisse angeht, zum Beispiel den gesamten Freizeitbereich der Kinder und Jugendlichen, spezielle Schulungen, Therapien und Kosten aus der Nachbetreuung, wird alles über Spenden finanziert. Fünf bis sechs Prozent des Budgets sind Spendengelder, also etwa eine halbe Million. Diese kommt aus verschiedenen Quellen zusammen: von Stiftungen, Gönner·innen, teilweise gibt es Aktionen, über die wir Spenden erhalten, Vorträge usw.
Nehmen wir die Zukunft und das 50-Jahr-Jubiläum im Jahr 2026 ins Visier: Was wünschst du dir für diesen Moment?
Ich wünsche mir, dass die Strukturen flexibel bleiben und dass man immer an jene denkt, die unsere Dienstleistung brauchen. Dass alle Mitarbeitenden die Vison teilen und daran glauben, dass jedes Kind und jede·r Jugendliche einen Entwicklungsweg machen kann, wenn Menschen hinter ihnen stehen, die an sie glauben. Ich hoffe, dass die Menschen, die in unserer Organisation arbeiten, den Mut haben, hinzuschauen, was die Kinder brauchen, und sich nicht durch irgendwelche juristischen und politischen Begrenzungen einschüchtern lassen. Man soll die rechtlichen Rahmenbedingungen respektieren, aber so definieren, dass jedes Kind sich frei entwickeln kann. Tipiti ist in unserer Region mittlerweile so gut als fachlich qualifizierter Dienstleister verankert und soll sich deshalb auch in Zukunft mit Zivilcourage für die Interesse und Anliegen der Kinder und Jugendlichen einsetzen.
Und für dich persönlich?
Wenn ich diese Rolle abgebe, liegt sie dann bei anderen. Ich würde sehr gerne daran teilhaben, wie es weiterläuft, aber nicht mehr aktiv eingreifen. Wenn es meine Gesundheit erlaubt, wünsche ich mir, den Verein 'Bildungschancen' auf Vordermann zu bringen und ihn dorthin zu begleiten, dass er eine Selbsthilfeorganisation wird. Auch möchte ich mich mehr meiner Familie, unseren vierzehn Grosskindern und meinen Hobbys widmen: Kochen, Lesen und mit Freunden zusammensein.