Das Lern- und Begegnungszentrum LBZ
Das LBZ ist Ankunftsfamilie, Begleitung, Schule, Pflegefamilien und viel mehr.
Von Donat Rade, Bereichsleiter Jugendliche und junge Erwachsene
Wir begleiten aktuell 59 Jugendliche, davon 54 jugendliche unbegleitete Geflüchtete (MNA) und fünf Schweizer·innen. Die angespannte Lage im Frühling – es gab mehr Zuweisungen, anspruchsvolle Geschichten und wenig Kapazität im Team – hat sich sehr entspannt. Seit Juni stehen uns in der Ankunftsfamilie in Wald zehn Wohnplätze zur Verfügung. In der Scheune von Ursi Mosimanns (VHPG*) ehemaligem Haus wurden in kurzer Zeit fünf weitere Plätze und ein Badezimmer eingerichtet. Auch das LBZ-Schulteam wurde erweitert, da wir seit Sommer rund 25 Jugendliche im LBZ unterrichten. Dazu mieten wir an der Wassergasse zwei zusätzliche Räume im dritten Stock. Diese werden am meisten von der Schule, aber auch von uns für Gespräche oder zum Beispiel für die Weiterbildung zur Neuen Autorität rege genutzt.
Viermal im Jahr machen wir unseren tipiti-Treff. Bei der Feier der erfolgreichen Lehrabschlüsse von sieben unserer Jugendlichen nahmen etwa sechzig Personen teil, fast alle Jugendlichen waren da, auch ein paar Ehemalige. Etwa alle zwei Wochen kommt inzwischen ein Jugendlicher neu zu uns. Es gibt dann jeweils ein Willkommensgespräch in der Ankunftsfamilie. Ein Jugendlicher, der schon in einer Pflegefamilie wohnt, kommt kochen, ein anderer übersetzt. So essen wir etwa zu fünfzehnt und halten dann eine Art Familienrat. Diese Runden sind in letzter Zeit besonders entspannt und fröhlich.
Da die Jugendlichen rund zwei Jahre in einer Pflegefamilie leben, kam es auch schon zu Austritten und Neuplatzierungen. So haben schon sieben Familien zum zweiten oder dritten Mal einen Jugendlichen aufgenommen, weitere sind geplant. Aktuell suchen wir für sieben Jugendliche in der Ankunftsfamilie eine passende Familie. Auch die Anzahl unserer gemieteten Wohnungen steigt; aktuell sind es fünfzehn. In den WGs halten wir regelmässig WG-Sitzungen, welche die Jugendlichen dabei unterstützen, ihren Haushalt gemeinsam zu führen und Konflikte gut zu lösen.
*früherer Name des Vereins tipiti
Hinweis: Wir suchen immer passende Familien, die eine·n Jugendliche·n bei sich aufnehmen können.
Eine Familie mit fünf Kindern und einem Jugendlichen
Das Gespräch mit Pflegemutter Hanneke Frei, die Khalil (18) seit anderthalb Jahren in ihrer Familie begleitet, führte Donat Rade.
Hanneke: Jede Person verdient ein Zuhause! Wenn ein Jugendlicher in einem familiären Umfeld aufwächst, bekommt er viel von unserer Kultur mit. Wir haben es so gut in der Schweiz, mussten noch nie hungern, noch keinen Tag wussten wir nicht, wo schlafen … Uns geht es so gut, dass wir das mit einem Menschen teilen wollen, der etwas braucht.
Ihr habt fünf eigene Kinder und nun noch einen Jugendlichen dazu. Wie geht das?
Für uns ist das eine Bereicherung. Wir hatten schon immer viele ausländische Gäste. Die Kinder können lernen vom Teilen mit anderen. Sie können andere Kulturen kennenlernen – ein Gewinn! Das ist uns wichtig. Khalil ist wie ein Bruder für unsere Kinder. Eigentlich machen die Kinder sechzig, siebzig Prozent der Arbeit. Wenn er mal heimkommt und wir merken, dass er keinen guten Tag hatte, spüren das die Kinder sofort und einer hockt ihm auf die Knie oder sie gehen zu ihm ins Zimmer. Sie sitzen auf seinem Bett, wärend er seine Hausaufgaben macht. Und umgekehrt kann er Situationen beruhigen, wo die Kinder laut werden.
Wie ist das machbar für dich: fünf Kinder und ein Jugendlicher?
Geht eigentlich von selbst. Khalil ist sehr selbständig, wäscht selber, putzt sein Zimmer und macht die Sachen, die wir miteinander abgemacht haben. Ob ich für eine Person mehr koche, spielt mir keine Rolle. Es ist schön, jemanden mit am Tisch zu haben, der an unserem Leben teilnimmt. Gestern hat er verschlafen, hätte einen Schnuppertag in einem Betrieb gehabt. Da fragt er mich ratlos, ob er sich krankmelden solle. Ich habe ihm erklärt, es sei besser, keine Ausrede zu erfinden. Er soll einfach hingehen und sich entschuldigen. So begleite ich ihn gerne.
Wie konnte Khalil bis jetzt am meisten von euch profitieren?
Ich denke, indem er den normalen Familienalltag kennenlernt. Wie das funktioniert und was in der Schweiz wichtig ist. Man lernt automatisch Werte wie Pünktlichkeit, ohne sie aufdrücken zu müssen. Sie werden einfach gelebt, vorgelebt. Am Anfang steckte er alle Wäsche in den Tumbler. Dann sah er, dass ich unsere aufhänge. Jetzt macht er das auch.
Was wirst du später rückblickend als Gewinn bezeichnen, denkst du?
Dass jedes Kind gelernt hat: Jede Person ist gleich viel wert. Egal, wo du geboren bist, alle wollen dazugehören und glücklich sein, unabhängig von der Herkunft. Dass Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenleben können. Es ist ein ganz natürliches Zusammenleben. Und wenn Khalil mal Unterstützung z.B. bei Mathe oder Deutsch braucht, haben wir abends nach sieben Uhr eine halbe Stunde Zeit.
Die Familie Frei: Hanneke 3. von links, Khalil rechts hinten
Gab es schon lustige Geschichten?
Am Anfang gingen wir wandern und er verstand, glaube ich, das Wandern nicht. Er lief mit Vollgas davon, mit der kleinen Fara an der Hand, als müsste er davonrennen. Wir wollten es eigentlich einfach gemütlich nehmen. Oder das erste Mal Fondue: Das war alles fremd.
Was war das Schwierigste?
Am Anfang, als er unser Haus sah, kam er auf viele Ideen, was er alles gerne hätte. Einen E-Scooter, einen Laptop und so weiter. Wir mussten ihm erklären, dass man nicht alles haben muss – und vor allem nicht alles neu. Da musste er einiges lernen.
«Das LBZ ist wie eine Familie»
Ein Porträt über den Jugendlichen Bashir Shirzad, aufgezeichnet von Désirée Rieser, Fachberaterin LBZ
Bashir Shirzad wird seit einem Jahr von tipiti und mir als Bezugsperson begleitet. In einem Gespräch beschrieb er das Lern- und Begegnungszentrum (LBZ) als sein zweites Zuhause. Neben dem Zuhause bei seiner Pflegemutter in Schönengrund kommt Bashir jeden Tag hier in die Schule, um in der Einsteigerklasse Deutsch, Mathe und auch etwas Englisch und Informatik zu lernen. Dieser Ort ist aber für Bashir viel mehr als ein Ort zum Lernen. Er beschreibt das LBZ als Familie. «Eine Familie, wo man gleichermassen Spass haben und auch seine Sorgen erzählen kann. Hier kann man mit verschiedenen Menschen sprechen, ich fühle mich hier einfach wohl und nicht allein. Hier isst, kocht und putzt man gemeinsam, schneidet sich gegenseitig die Haare. Manchmal kommt auch Besuch, wie in einem eigenen Zuhause», beschreibt Bashir den Alltag im LBZ.
Bashir Shirzad
Im Schulalltag mag er am liebsten den Morgenkreis, der immer vor dem Schulstart stattfindet. Dort gibt es Raum und Zeit, sich gegenseitig zu erzählen und zuzuhören. Die Küche ist ebenfalls ein Ort des Austauschs. Neben dem Erlernen verschiedener Gerichte entstehen persönliche Gespräche. Bashir spürt, dass das LBZ ein Ort ist, wo man sich mit gegenseitigem Respekt und Interesse begegnet und einander hilft.
Nun geht Bashir schulisch einen Schritt weiter und wechselt an die Integrationsklasse Rheinspringen. Von der Zeit im LBZ nimmt er viele schöne Erinnerungen mit, beispielsweise die Erlebnisse im Rahmen des Ferienprogramms und des Lagers im Alpstein. «Ich werde nicht vergessen, was ich hier gelernt habe und immer wieder ins LBZ zu Besuch kommen», verspricht Bashir. Ich als seine Bezugsperson glaube fest, dass er dies ernst meint und freue mich darauf.
Die Räume sind offen und alle sind willkommen.
Monica Vetsch arbeitet seit acht Monaten als Fachberaterin im LBZ. Donat Rade führte mit ihr dieses Gespräch.
Wie erlebst du unsere 'Gestaltete Umgebung'?
Monica: Ich merkte schon bei meinem ersten Besuch: Das Büro ist offen, alle sind da, die Jugendlichen bewegen sich frei zwischen Küche, Büro und Schule. Steve erzählte mir bei der Führung, hier passiere ganz viel, es werde gelernt, es würden hier aber auch Haare geschnitten… Ich konnte mir das nicht vorstellen. Mittlerweile ist das für mich normal: Die Räume sind offen. Beim Eingang steht ein Töggelikasten, an dem nicht nur unsere Leute spielen, sondern auch die Architekten von oben und so weiter.
Ich arbeitete vorher mit psychisch beeinträchtigten Menschen und erwartete hier Menschen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung; sie waren ja auf der Flucht. Gleich am ersten Tag stellte ich fest, dass die Jugendlichen sich normal und altersentsprechend verhalten. Spätestens, wenn ich mit ihnen durch die Stadt gehe, erlebe ich sie als gesunde junge Menschen. Sicher sind sie teilweise von ihren Erlebnissen auf der Flucht geprägt. Diese Erlebnisse und der Rucksack, den sie dadurch mit sich herumtragen, stehen jedoch bei unserer täglichen Arbeit nicht im Vordergrund.
Wie erklärst du dir das?
Ich habe das Gefühl, die Jugendlichen fühlten sich sehr wohl hier in der Schule. Sie haben ihre Gemeinschaft. Auch dass sie anfangs in der Ankunftsfamilie leben, gehört dazu: Sie sind nicht allein. Wenn du auf der Flucht warst und Menschen triffst, die Ähnliches erlebt haben und mit denen du dich wohlfühlen kannst, stelle ich mir das als sehr hilfreich vor. Kürzlich ging ich mit Sanullah zusammen unseren neu angekommenen Jugendlichen in der Stadt suchen, da er den Weg zu uns nicht fand. Es war für Sanullah selbstverständlich und wichtig, gemeinsam nach Ahad Ausschau zu halten. Diese Wichtigkeit macht es aus, dass sie sich hier so schnell wohlfühlen.
Wo erlebst du Gestaltete Umgebung in unserem Bereich noch weiter?
Das zieht sich durch: Wir sind da. Ich lese grad, was hier an der Wand geschrieben steht: 'Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.' Daneben das Bild eines Jungen, der klettert. Wir sind alle bemüht, den Blickwechsel zu machen. Die Jugendlichen merken das. Sie können auch jederzeit zu uns ins Büro kommen. Manchmal stehen fünf Jugendliche um mich herum, weil ich viele Bezugspersonen habe, die noch bei uns in der Schule sind. Ich geniesse es, dass sie einfach kommen, einer wegen der Post, der andere, weil er in einen Fussballclub will und der dritte aus einem anderen Grund. Sie kommen immer miteinander, weil sie sich gegenseitig helfen. Wenn ich in die Schule gehe, um jemandem etwas zu erklären, kommt automatisch Borhan und übersetzt. Die Hilfsbereitschaft ist enorm. Und ich glaube, wir leben ihnen das auch vor. Wir sind da für euch, ihr seid okay, ihr seid hier willkommen.
Das gilt auch im Team und das wirkt auch nach aussen. Wenn wir das nicht so leben würden – einander annehmen und mit gegenseitiger Wertschätzung begegnen – würde es nicht funktionieren. Ich bin überzeugt: Die Jugendlichen würden es spüren. Sie haben durch ihre Erlebnisse eine grosse Sensibilität entwickelt, so dass sie spüren, mit welcher Haltung wir ihnen begegnen.