«Ich weiss nicht, wo ich heute stünde.»

Michael, ein junger Mann, lächelt leise

Michael lebte acht Jahre lang in einer Pflegefamilie und besuchte die Gesamtschule Trogen. Der heute Zwanzigjährige berichtet uns, wie er den Übergang zu tipiti damals erlebte.

Ich stritt früher oft mit meiner Schwester. Meine Mutter brauchte eine Auszeit, und so kam ich jeweils für ein Wochenende pro Monat zu meinen künftigen Pflegeeltern. Es gefiel mir dort so gut, dass ich, als es um die Oberstufe ging, auch die Schule wechseln wollte. In meiner früheren Schule war ich gemobbt worden. So unterstützte der Beistand meine Mutter dabei, dass ich nach Heiden kommen konnte. Auf diesem Bauernhof hier wurde mir nie langweilig. Es gab viel Abwechslung, der Alltag war interessant, ganz etwas Neues, das ich nicht kannte. Für mich begann ein zweiter Lebensabschnitt: Ich war an einem neuen Ort, den niemand kannte, brauchte Abstand zu meinem alten Wohnplatz. Ich weiss nicht, wo ich heute stünde, wenn ich diesen Wechsel nicht gemacht hätte. Im Türmlihaus in Trogen fand ich wieder Freude am Lernen. Insgesamt habe ich acht Jahre lang bei Josette und Ruedi, meinen Pflegeeltern, gelebt. Seit drei Monaten wohne ich selbständig.

Berufswahl und Lehre geschafft

Dass ich meinen Lebensweg mit der Hilfe von Lehrern und Pflegeeltern schaffen würde, dass ich Freude an der Schule finden und mich auf die Lehre vorbereiten konnte – dieser Wunsch wurde erfüllt. Die Berufswahl ist mir auch dank der Unterstützung des Lehrers gelungen. Wenn ich höre, wie das bei meinen Kollegen war … bei tipiti wird jede·r Einzelne persönlich unterstützt, viel intensiver.

Highlights und Erfolgserlebnisse

Höhepunkte in der Schule waren die Lager – vor allem das Trekking von Ilanz ins Tessin. Die tausend Höhenmeter! Als wir auf dem Pass waren, hatte ich ein Freiheitsgefühl, war stolz, dass ich das gemeistert hatte. Es war eigentlich meine erste Wanderung. Und verschiedene solche Ausflüge: im Kanu, spassige Mittagessen am Ufer – wir 'schupften' einander ins Wasser. Judo als Freifach, das dann zu meinem Hobby wurde. Ein Erfolgserlebnis? Als ich die Zusage für meine Lehrstelle als Logistiker EFZ erhielt.

Michael vor Jahren als Jugendlicher im Kanu auf dem See
Als Jugendlicher: Ausflug mit der Schule Türmlihaus

 

Immer war etwas los

Im Betrieb der Pflegefamilie konnte ich viel mithelfen, durfte auch mit den Maschinen fahren, zuerst mit dem 'Aebi', einem Zweiachsmäher, und später mit dem 'Fuchs', einem Hoflader. Später absolvierte ich die grosse Prüfung mit dem Traktor, der 40 km/h fährt, sodass ich auch mit diesem helfen konnte. Wir unternahmen viel miteinander. Mit Ruedi und Josette fuhr ich mit dem Nachtzug nach Holland, um seine Schwester zu besuchen. Mit Josette und ihrem Vater reisten wir nach Paris, stiegen auf den Eiffelturm. Schon früh half ich auf dem Bauernmarkt in Heiden mit, wurde nach ein, zwei Jahren zum Standverkäufer und bediente und verkaufte selbstständig. Das war eine gute Erfahrung. Mir war der Kundenkontakt wichtig und ich machte die Arbeit gerne. Detailhandel wäre für meine Berufswahl auch in Frage gekommen …

Ich gehörte voll dazu – und doch ...

Ich gehörte voll zur Familie, feierte auch Weihnachten mit ihnen. Ich kannte das vorher nicht, so abseits und für sich zu leben, mit Wiese rundum und viel Freiraum. Dort habe ich meine Ruhe gefunden. Jedes dritte Wochenende ging ich zu meiner Mutter – habe ich mich gefreut! Es gab auch eine Zeit, da wollte ich zu ihr zurück. Sie sagte aber ganz klar, das gehe nicht, weil ich zu wenig selbständig sei und mir nichts von ihr sagen lasse. Meine Mutter hat mich immer unterstützt: beim Wechsel des Wohn- und Schulortes, von Bronschofen nach Heiden und Trogen. Sie spürte, dass ich das brauchte und dass es mir dabei besser ging.

Eine grosse Reise

Letztes Jahr machten wir eine grosse Reise nach Mürren und aufs Schilthorn, wo der James Bond-Film gedreht worden war. Wir feierten so die acht Jahre mit der Familie und auch meinen Lehrabschluss. Zu dritt meisterten wir den Klettersteig. Der war für mich sehr herausfordernd wegen meiner Höhenangst. Es war zwar alles befestigt, schwankte aber so stark, dass ich hinterher einen ganz starren Blick hatte.

Krisen und Schwierigkeiten

Ganz am Anfang machte ich mir selber eine Krise, als ich mit dem 'Aebi' einen Fehler machte. Ich verkroch mich und telefonierte nachhause, wollte heim. Ich machte mir einen Kopf. Meine Mutter meldete sich bei Ruedi und Josette und wir redeten darüber, dann war es wieder gut. Ein andermal haute ich nach der Schule zu meiner Mutter ab. Sie rief Ruedi und Josette an und sie fanden zusammen eine Lösung. Ich ging zurück, denn sie brauchten mich auf dem Markt. Das war dann gar nicht schlimm.

Während der Lehre reichte mein Geld nicht weit, vor allem in meiner Freizeit. Ich nahm das aber nicht ernst und boxte meinen Kopf durch, wollte im Umgang mit Geld von niemandem Hilfe annehmen. Geld war für mich Freiheit. So wollte ich mich nicht einschränken lassen. Das ist immer noch so.

Wie geht es weiter?

Ich habe im Sommer die Lehre als Logistiker EFZ abgeschlossen und arbeite im Lehrbetrieb weiter. Im Dezember durfte ich meine eigene Wohnung beziehen. Seither gehe ich jeden Mitwoch zu Ruedi und Josette Mittagessen und pflege den guten Kontakt mit ihnen. Sie helfen mir jetzt noch mit dem Budget, ich bin froh um diese Unterstützung. Mit meinem Auto hatte ich kürzlich einen Unfall. Ruedi hat mir die anfallenden Kosten vorgeschossen, damit ich weiterhin mit dem Auto zur Arbeit komme.

Mein Lebensplan ist recht offen, habe ein paar Ideen, muss aber zuerst Erfahrungen sammeln. Nebenberuflich bin ich im Sicherheitsbereich interessiert, muss rausfinden, ob das etwas für mich wäre. Im Sommer gehe ich ins Militär; auch das kommt in Frage: Berufssoldat. Oder ich bilde mich auf dem jetztgen Beruf weiter. Werde mich demnächst erkundigen. Mein Traum ist es, selbständig erwerbend zu sein.