Wie wir Jugendliche betreuen

Gedanken von Leiter Rolf Widmer zur Integration junger Menschen.

In allen Angeboten von tipiti fördern wir Kinder und Jugendliche mit besonderen Lebensläufen, die auf Grund ihrer teilweise belastenden persönlichen oder schulischen Biographie gezielte Unterstützung beim Aufbau des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens benötigen. Wir versuchen mit jedem einzelnen Kind, jeder oder jedem Jugendlichen, die in bei uns leben und lernen, einen individuell passenden Rahmen zu gestalten, der ihm Sicherheit, verlässliche Beziehungen und Perspektiven ermöglicht.

Dasselbe Grundanliegen seit den Anfängen

Dieses Ziel ist keine Zeiterscheinung, sondern unser Grundanliegen seit tipitis Gründung im 1976. Die neue Herausforderung ist die Antwort auf die Frage, welche Grundlagen und Rahmenbedingungen wir entwickeln müssen, damit wir auch MNA, also minderjährige Flüchtlinge ohne Elternbegleitung, trotz ihres Lebens in der Unsicherheit, aktiv auf dem Weg in ein eigenständiges Leben mit persönlichen und beruflichen Perspektiven unterstützen können.

Die spezielle Situation von Flüchtlingskindern

Viele Flüchtlinge erlebten in ihrer Heimat oder unterwegs dramatische Ereignisse, die Spuren hinterlassen. Diese häufig unsichtbaren Verletzungen wirken auch hier in der sicheren Schweiz noch nach. In unterschiedlicher Gestalt und Intensität bestimmen sie deren Dasein. Schlaflose Nächte, Konzentrationsschwierigkeiten, Angstzustände, Schuldgefühle, psychosomatische Beschwerden, körperliche Schmerzen oder auch Suizid-Gedanken begleiten ihren Alltag.

Über 5'500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kamen in den zwei Jahren 2015/16 in die Schweiz. In Zusammenarbeit mit dem Kanton Appenzell Ausserrhoden setzte sich tipiti zum Ziel, den MNA im Kanton Appenzell AR gemäss dem tipiti Leitbild im Hier und Jetzt einen entwick­lungs­fördernden Alltag zu ermöglichen und auf dem Weg in die Selbstständigkeit zu begleiten.

Was ist morgen?

Wir wissen nicht, welche Herausforderungen morgen vor allem auf die MNA zukommen. Also muss ein Schwerpunkt in der Stärkung der Persönlichkeit und in der Entwicklung eines gesunden Wertesystems liegen. Den Übergang in die berufliche Bildung müssen Jugendliche mit Fluchtbiografie dabei unter weiteren Herausforderungen bewältigen, da der Anschluss an unser Bildungs- und Ausbildungssystem auf Grund ihrer oft unterbrochenen Schullaufbahn, ihrer sprachlichen Defizite und des unsicheren Aufenthaltsstatus nicht garantiert ist. Für viele Migranten ist neben der Suche eines sicheren Ortes auch die Suche nach einer Beschäftigung und einem ökonomischen Auskommen zentral. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Betreuung, die MNA zu motivieren, ihre Ziele über den Weg einer guten Ausbildung zu erreichen. Ausbildung ist die effizienteste Form der Entwicklungszusammenarbeit und darf nicht nur jenem offen stehen, die in der Schweiz ein Bleiberecht haben. Es soll auch eine Hilfe sein.

Der Schritt in die Berufswelt ist für alle gross...

Für alle jungen Menschen ist der Einstieg in die Arbeitswelt mit grossen Herausforderungen verbunden. Für MNA ist dieser Schritt besonders anspruchsvoll. Sie halten sich meist erst seit einem bis drei Jahren in unserem Lande auf. Also können sie sich nicht wie hier aufgewachsene Kinder langsam auf den Einstieg in die Berufs- und Arbeitswelt vorbereiten. Ein Teil der Jugendlichen ist motiviert, hat Ambitionen und Berufsziele. Sie können wir mit gezielter Unterstützung so fördern, dass sie den Anschluss an unser Bildungssystem schaffen.

...für einige aber grösser als für andere

Es gibt jene Gruppe MNA, die durch ihre bisherige Lebensgeschichte und ihre oft jahrelange Fluchtgeschichte eine unterbrochene Schulbiographie haben. Teilweise braucht diese Gruppe mehr Zeit, das Basiswissen zu erarbeiten und sich in Deutsch zu verständigen. Sie sollen unseres Erachtens mit besonderen Förderprogrammen, die auf ihren Talenten aufbauen, unterstützt und gefördert werden. Ein Schwerpunkt soll vor allem ein praktisches Berufsangebot sein, damit sie bei einer allfälligen Rückkehr in ihr Heimatland mit dem Erlernten praktische berufliche Perspektiven entwickeln können.

Die richtige Ausbildung

Die «richtige» Ausbildung, den richtigen Beruf zu finden, ist der Wunsch aller Jugendlichen. Auch die MNA sehnen sich danach. Unser Ziel wäre, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung entsprechend ihren persönlichen Interessen und Ressourcen machen könnten, damit sie nach Möglichkeit auch ökonomisch unabhängig werden können.

Und wenn einer das Land verlässt?

Jugendlichem die nach der erstmaligen beruflichen Eingliederung die Schweiz verlassen müssen, möchten wir in Zusammenarbeit mit andern Fachorganisationen bei der beruflichen und sozialen Eingliederung im Rückkehrland unterstützen.

MNA spezifisch fördern

Es braucht innovative Ideen und engagierte Berufsleute, die motivierend und geduldig mit den jungen Menschen arbeiten, ihnen Fach- und Sozialkompetenzen beibringen und dabei deren einzelne psychische, physische und intellektuelle Ressourcen berücksichtigen. Wichtig bleiben die Sprachförderung und der Erwerb anderer Kulturtechniken; auch braucht es Räume, damit sich die Jugendlichen mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen können. Ein Ansatz ist die Biographiearbeit, die wir ressourcenorientiert verstehen, denn Flüchtlingskinder haben nicht nur «besondere» Probleme, sondern auch «besondere» Fähigkeiten. Diese sollten wir anerkennen und stärken.

Die Erziehung eines Kindes braucht ein ganzes Dorf

Der Einbezug der Zivilgesellschaft ist eine weitere sozial integrative Ressource. Ein grosser Teil unserer Jugendlichen hat in der Umgebung von Trogen einen regelmässigen persönlichen Kontakt mit einer Familie. Die Mithilfe der Zivilgesellschaft ist für die Integration wichtig. Sie ermöglicht den Jugendlichen verlässliche Privatbeziehungen und hilft, das Selbstwertgefühl aufzubauen.

Was zu wünschen bleibt: Kontinuität der Beziehungen

Durch die offene und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Kanton Appenzell AR wird es uns möglich, auf der Basis eines Leistungsvertrages unsere Wertvorstellungen auch bei MNA anzuwenden. Besonders wichtig ist uns, die jungen Flüchtlinge auf ihrem persönlichen und beruflichen Lebensweg auch über das 18. Altersjahr fördern zu können. Die Kontinuität in der Beziehung zwischen den Jugendlichen und ihren Betreuer-/innen gibt den jungen Menschen ohne familiäres Netz in der Schweiz eine wichtige persönliche Orientierung.

Nicht in allen Kantonen ist die Betreuung auf die Entwicklungsbedürfnisse der Jugendlichen abgestimmt. Viele Kantone haben Konzepte, wo die jugendlichen Flüchtlinge ihre Bezugspersonen und auch ihr Umfeld inklusive Schule mehrmals wechseln müssen. Das ist für sie jedes Mal mit einer neuen Verunsicherung verbunden. Es wäre zu wünschen, dass auch Jugendlichen in andern Kantonen eine individualisierende Betreuung und Förderung ermöglicht würde.

Regionales Ausbildungszentrum als Vision

Ich hoffe, es gelinge uns, ein regionales Ausbildungszentrum für junge Menschen aufzubauen, die ihre Ausbildung nicht auf dem direkten Weg in der freien Wirtschaft machen können. Ein solches Zentrum sollte ein Ort für Flüchtlinge und für hier aufgewachsene Jugendliche mit besonderen Lebensläufen sein, wo sie sich gemeinsam ausbilden könnten.