Online-Ausstellung

Die Neunzigerjahre im Asylbereich

Von 1990 bis 2000 leitete Rolf Widmer die Asyl-Organisation für den Kanton Zürich AO (heute heisst sie AOZ). Die AO betreute alle Asylsuchenden und Kriegsflüchtlinge, die der Bund dem Kanton Zürich zuwies, während der ersten sechs Monate – zeitweise waren dies gegen 8'000 Menschen. Darauf wurden die Flüchtlinge in die damals 171 Zürcher Gemeinden verteilt. Die 1990er-Jahre waren geprägt von den Kriegen in Ex-Jugoslawien mit massiven Flucht­bewegun­gen. Die AO unter Rolf Widmer stellte innovative Programme auf die Beine, die bald auf die ganze Schweiz ausstrahlten.

Es waren belastende Jahre – und eine grosse Herausforderung für die Behörden und die Bevölkerung. Ein Spannungsfeld von Ängsten, Befürchtungen, Abwehr-Reflexen, Verständnis, sozialem Gewissen und enormem Engagement.

Zu den Artikeln:

Betroffene werden zu Beteiligten - Workfare, Worcester und Züri rollt - Psychosoziale Begleitung - Humanitäre Aktion des Bundes - Junge Flüchtlinge - Tagesstruktur und Ausbildung - Öffentlich für Werte einstehen - Rückkehr mit Bildung - Songs über Krieg, Flucht und Liebe

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Betroffene werden zu Beteiligten

Die AO entwickelte ab 1991 ein Betreuungsmodell, das den Schutzsuchenden Eigen­ver­antwortung und Gegenleistungen abverlangte, aber auf dem Respekt vor der Würde eines jeden beruhte. Es galt, die sozialen Kompetenzen der Menschen zu bewahren, also nicht für sie zu arbeiten, sondern mit ihnen. Die AO bot Grundleistungen wie Wohnen und Essen, die Männer und Frauen lernten, ihren Alltag zu bewältigen –indem sie zum Beispiel in Gemeinschaftsküchen selber kochten – und nahmen an Ausbildungs- und Beschäftigungsprogrammen teil.

Andere Fachdienste wie Psychosozialer Dienst, Begleitung von Minderjährigen, Foyers für psychisch belastete Personen und Beratung für Rückkehrende entstanden. Das war neu und pionierhaft für die Schweiz. Heute ist es an vielen Orten etablierter Standard.

Workfare, Worcester und Züri rollt

Wer sich sinnvoll beschäftigen und bilden kann, ist psychisch gesünder und kann eher selbständig leben. Hier oder im Herkunftsland.

Die hohe Arbeitslosigkeit der 90er-Jahre führte dazu, dass nur noch vierzig Prozent der Asylsuchenden Arbeit fanden. Zu der Zeit entstanden die Beschäftigungs­pro­gram­me des Fachdienstes Workfare (heute GEM und Workcenter). 700 Asylsuchende aus 54 Ländern beteiligten sich in Programmen wie der Schreinerei, einer Velowerkstatt, dem Veloverleih Züri rollt, im Kinderhort Känguru, im Partyservice Paprika oder mehr als zwanzig anderen Beschäftigungsprogrammen.

Der Veloverleih Züri rollt ist ein klassisches Beispiel für die Ausstrahlung der innovativen AO-Projekte jener Zeit. Inzwischen rollen viele Städte von Chur bis Genf auf Leihfahrrädern, die von Asylsuchenden gewartet und kostenlos ausgeliehen werden. Pikantes Detail: Wer ein Züri rollt-Velo ausleiht, gibt seinen Pass oder seine ID als Pfand ab – einem Flüchtling! Das funktioniert seit über zwanzig Jahren so.

Psychosoziale Begleitung

Es gab und gibt unter den Asylsuchenden Personen, denen aufgrund ihrer Lebensgeschichte die Kraft für eine positive Bewältigung des Jetzt und der Zukunft fehlt. Bei Kriegsflüchtlingen ist dies gehäuft der Fall. Im Psychosozialen Dienst erhielten sie ergänzende Unterstützung durch freiwillige Personen aus der Bevölkerung oder der Flüchtlinge selber. Diese Mediatorinnen und Mediatoren begleiteten eine psychisch belastete Person zum Arzt, betreuten eine Jugendwohngruppe oder leisteten Informations- und Übersetzungs-, oder vielmehr: Kulturvermittlungsarbeit.

Humanitäre Aktion des Bundes

Zusammen mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH bat Rolf Widmer während des Bosnienkrieges den Bund, im Rahmen einer Humanitären Aktion Mütter mit Kindern vorübergehend aufzunehmen. Der Bundesrat bewilligte die Aufnahme von zweitausend Müttern und Kindern aus dem Kriegsgebiet.

Sechs Kantone erklärten sich freiwillig bereit, die 600 Mütter mit ihren rund 1400 Kindern zu betreuen; der Kanton Zürich übernahm 150 Mütter mit 400 Kindern. In der Bevölkerung zeigt sich eine grosse Hilfsbereitschaft; es bildeten sich informelle Netzwerke zur Integrationshilfe; Partnerfamilien begleiteten alleinerziehende Mütter und Kinder. Zum Teil dauern diese Beziehungen bis heute an und bleiben bereichernd für beide Seiten.

Junge Flüchtlinge

Der Fachdienst unbegleitete Minderjährige MNA (von Mineurs Non Accompagnés) etablierte sich in den 1990-Jahren zum Ansprechpartner für alle jugendlichen Flüchtlinge aus dem Kanton Zürich.

Asylsuchende unter achtzehn Jahren wurden besonders aufmerksam betreut. Auch dies war etwas Neues für die Schweiz. Der Fachdienst MNA führte ein Kinderhaus, verschiedene kleine Wohngruppen und Plätze bei Gastfamilien.

Minderjährige wurden nicht mehr in kollektiven Unterkünften untergebracht. Unter dem Stichwort Heimat in der Fremde fanden Jugendliche Platz in Vierer- oder Fünfer-Wohngemeinschaften, begleitet von einer erwachsenen Mediatorin oder einem Mediator der gleichen Ethnie. Für Kinder fanden sich Plätze in Pflegefamilien beim Verein tipiti.

Tagesstruktur und Ausbildung

Das Ausbildungszentrum Tagesstruktur für Jugendliche TAST entstand während des Bosnienkriegs, als – unter vielen anderen – mehrere hundert junge Leute aus dem bosnischen Kriegsgebiet in Zürich ankamen, geflohen ohne etwas, oft ohne Vater oder Mutter. Ihre Ausbildungen zuhause hatte sie abbrechen müssen, hier war ihnen unsere Sprache eine hohe Hürde. Sie begannen von vorn. Im Ausbildungszentrum TAST kamen sie zusammen, lernten Deutsch und besuchten allgemein bildende Kurse. So bereiteten sie sich auf die berufliche Ausbildung vor, oder sie besuchten spezielle Lehrgänge – nur wenigen stand der Zugang zu regulären Lehren offen, die Politik zeigte sich wenig flexibel. Auch hier war Rolf Widmer die starke treibende Kraft. Ausbildung ist ein Menschenrecht und Jugendliche müssten unabhängig von Status oder Lebenssituation gleiche Chancen auf Ausbildung haben. Das war und ist sein sozialpolitisches Credo.

Öffentlich für Werte einstehen

Die Neunzigerjahre erlebten auch den Aufstieg der Schweizer Rechtspopulisten. Für diese waren Flüchtlinge, war das Asylwesen ein willkommenes Spielfeld für Negativkampagnen, Vereinfachungen und Verunglimpfung. Wie erfolgreich sie waren, erkennen wir erst heute richtig: Kaum widersprochen lässt sich auf dem Buckel der ausländischen Mitbewohner politisches Kapital schlagen. Unter Rolf Widmer war die AO auch ein Sprachrohr für die Flüchtlinge.

Rückkehr mit Bildung

1998 kämpften 34 Jugendliche aus Bosnien-Herzegowina dafür, ihre Ausbildungen in der Schweiz abschliessen und erst dann in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Die Regierung hatte sie ausweisen wollen. Breite Teile der Bevölkerung empörten sich, es entstanden eine Bewegung und eine Medienkampagne, bei denen sich prominente Supporter für die Jugendlichen fanden: Pipilotti Rist, Victor Giacobbo, Roger Schawinsky und mehrere Politikerinnen und Politiker (fast) aller Couleur. Sie hatten Erfolg, die Jugendlichen: Die meisten schlossen ihre Ausbildungen in der Schweiz ab und kehrten zurück. Dank ihrer Ausbildung konnten sie Perspektiven in ihrem Heimatland entwickeln; einige unter ihnen beteiligen sich stark am Aufbau ihres Landes.

Songs über Krieg, Flucht und Liebe

Die Friends United Refugees waren ein Flüchlingschor zur Zeit der Boys-and-Girls-Groups der Neunziger. Die 13 Jugendlichen aus zehn Nationen schrieben, sangen und tanzten ihre Songs zu professionell produzierter Musik. Sie hatten ganz schön Erfolg: Auftritte im TV, an Konzerten in der ganzen Schweiz und sogar im Ausland, als Vorgruppe zu DJ Bobo in Luzern und in der albanischen Hauptstadt Tirana vor über 100'000 Leuten! Wir wollten zeigen, was die jungen Leute können. Und sie zeigten es. Drei Single-CDs (One Nation, Running for the Future, Best of Love for the Children) und ein ausgewachsenes HipHop-Pop-Album zeugen davon.

Infos über die heutige Zeit: www.aoz.ch, oder auch: www.rolf-widmer.net

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Fotografien © T+T Fotografie