Betroffene einbeziehen, wenn immer möglich

Verena Odermatt hat eine Ausbildung als Kleinkinderzieherin und Sozialpädagogin und studierte an der Universitüät Zürich Pädagogik, Sonderpädagogik sowie Arbeitsrecht. Sie ist selber Mutter zweier erwachsener Kinder. Als Mitglied der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde KESB steht sie mit tipiti in Kontakt, wenn sie Pflegefamilien sucht und Pflegeverhältnisse begleitet – vor allem, wenn Situationen besonders fordernd werden.

tipiti Fachberaterin Evelyn Müller-Lüscher hat dieses Porträt aufgezeichnet

Für mich ist ein Übergang, wenn es für Menschen Wechsel gibt, zum Beispiel von einer Umgebung in eine andere. Wichtig ist mir, bewusst zu sein, was so ein Übergang für das Kind bedeutet. Ich trage Verantwortung, diese Übergänge mitzugestalten. Sie bedeuten immer Ungewissheit. Wichtig ist der frühzeitige Einbezug aller Beteiligten und eine transparente Kommunikation darüber, dass ein Übergang ansteht und wo es hin geht. Ich überlege mir sorgfältig, welche Leute in Entscheidungsprozesse einbezogen sein müssen. Auch formal juristische Verfahrensabläufe müssen wir einhalten. Denn auch auf dieser Ebene muss alles stimmen. Dies ist den betroffenen Menschen meist nicht so wichtig wie uns.

Immer versuchen, die Betroffenen einzubeziehen

Trotzdem sollen Betroffene als Menschen wahrgenommen werden. Es ist nicht immer so einfach, dass sie sich einbezogen fühlen. Manchmal gibt es äussere Zwänge oder dass z.B. ein System kollabiert und die Kinder gar keine Wahl haben. Doch auch wenn Not im Verzug ist, also dringender Handlungsbedarf besteht, muss ich überlegen, wer dabei sein muss und auch andere Fachpersonen einbeziehen, z.B. Notfallpsychologen, um Gefahren oder Stresssituationen zu vermindern. Die Menschen sollen sich selbstwirksam erleben können, sich nicht ohnmächtig fühlen. Beteiligt sein, selbst wenn in diesen Situationen keine Mitentscheidung die Betroffenen mehr möglich ist oder nur noch in kleinen Sachen.

Betroffene erleben ein Machtgefälle

Es sind Einschnitte in ihre Leben, neue Lebensabschnitte. Es bedeutet viel Unbekanntes. Oft sind es Stresssituationen und betrifft fragile Systeme. Oft können diese nicht auf positive Erfahrungen mit Übergängen zurückgreifen. Für sie bedeutet es einen Kontrollverlust über ihr Leben und sie fühlen sich ausgeliefert. Die Betroffenen formulieren auch, sie erlebten ein Machtgefälle und hätten nichts zu sagen. Ich denke zum Beispiel an eine Jugendliche, die freiwillig in eine Institution eingetreten war. Ich musste ihr später mitteilen, eine Rückkehr in ihre Familie sei nicht möglich, weil das ihre Entwicklung gefährden würde. Das Mädchen wurde sehr wütend auf mich. Ich konnte das verstehen.

Die eigenen Eltern verraten?

Bei Kindern und Jugendlichen lösen Übergänge Unsicherheiten und Ängste aus. Oft sind Kinder betroffen, die zu Hause viel oder zu viel Verantwortung übernahmen und danach nicht wissen, was mit den Eltern passiert. Kann Mama für sich sorgen? Es kommen etwa Schuldgefühle auf, nicht gut genug geschaut oder die eigenen Eltern verraten zu haben. Auch haben diese Kinder oft Angst, sich in eine Gemeinschaft einzubinden, da sie früher oft alleine waren.

Probleme lösen sich nicht selber

Übergangs-Prozesse müssen langsam angegangen und verschiedene Szenarien abgeklärt werden. Man sollte den Blick offenhalten, sich nicht drängen lassen, auch nicht durch das betroffene Kind oder wenn es pressiert. Entschleunigen, den Mut haben zu Zwischenlösungen oder auch dazu, das Kind aus dem System zu nehmen, auch wenn es schon lange dort war. Ich denke, Probleme lösen sich nicht selber, sie können nicht ausgesessen werden. Kinder holen sich dann einfach vehementer, was sie brauchen. Ein Kind beispielsweise wollte nicht mehr in der Pflegefamilie bleiben. Irgendwann ging es dann einfach nicht mehr zu ihr zurück. Was macht man da? Welche Stimme hat dann Priorität? Es sind oft sehr viele Akteure, Stimmen und Meinungen. In dieser Situation das Kind stets im Fokus zu halten, ist manchmal schwierig. Es kommen auch Zweifel auf: Sind wir auf dem richtigen Weg? Ich glaube aber, dass die Kinder sehr deutlich zum Ausdruck bringen, was sie brauchen. Wir dürfen ihnen da auch vertrauen. Bei Übergängen im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen brauchen wir Sorgfalt, weil Kinder oft alleine sind und wenig Strategien haben. Wir müssen wachsam sein, damit das Kind sich selbstwirksam fühlen und von sich denken kann: «Ich kann das. Ich kann Übergänge bewältigen.»

Eine Begleitperson, die dem Kind eine Stimme gibt.

Meine Idealversion wäre, dass das Kind von einer Person ganz eng begleitet wird, die ihm eine Stimme gibt, wenn es selbst keine hat. Eine rechtliche, psychologische und seelische Begleitung. Denn wir als Verfahrensleitende sind weit weg. Auch in einer «einfachen» Situation muss man schauen, ob das Kind so eine Begleit-Person hat. Und wenn ich mir das nun so überlege: Eigentlich sollte man die Kinder nach dem Prozess nochmals befragen, wie es für sie war. Das geschieht heute nicht.