«Eine sinnvolle Aufgabe»

Seit Ende 2019 sind Lucia Achermann und Andi Fuchs Pflegeeltern des siebzehnjährigen Karim, der aus Afghanistan in die Schweiz geflüchtet ist. Bekannte hatten sie darauf hingewiesen, tipiti suche Wohnplätze für Jugendliche und junge Erwachsene. Sie fanden, das sei eine sinnvolle Aufgabe und es sei schön, etwas zurückzugeben.

«Uns geht es gut, wir haben alles im Überfluss», sagt Andi, der oft gereist ist und dabei viel Gastfreundschaft erfahren hat. Für Lucia ist es «eine schöne Form gelebter Menschlichkeit und Solidarität, die sich gut in meinen Alltag einbetten lässt. Wir hatten immer offene Türen auch für Menschen mit erschwerten Bedingungen.» Kommt hinzu, dass von ihre älteren zwei Kinder ausgeflogen sind und einzig ihre Tochter Celestina noch zuhause lebt. Andi blickt zurück: «So hatten wir Platz, um jemanden aufzunehmen.»

Wie sie den Übergang erlebten

Lucia stellt einen Vergleich an: «Einen Menschen aufzunehmen, ist ähnlich wie eine Geburt. Ich meine zu wissen, was mich erwartet, habe eine Vorstellung und guten Willen. In der Realität ist es dann auch gut, aber anders als erwartet. Ein neuer Mensch ist im Raum und bringt das Gefüge zum Schwingen. Da weht ein frischer Wind, da muss ich eigene Denkmuster hinterfragen. Ich bin froh, habe ich die Herausforderung angenommen, mich vom Herzen und nicht vom Verstand leiten lassen. Andi fügt bei: «Wenn man zuviel überlegen würde, was alles kommen könnte, wäre es schwierig, sich dafür zu entscheiden.» Lucia ist es wichtig: «Wir haben alle mit einbezogen, auch die Jungen, die nicht mehr zuhause wohnen, damit alle den Entscheid mittragen konnten.»

tipiti im Hintergrund

Sie erleben tipiti als kompetent, unkompliziert und unbürokratisch, von Anfang an, fühlen sich ernst genommen und gut unterstützt. Lucia sagt: «Ich weiss, ich kann jederzeit kommen.» Für sie beide ist es entlastend, dass es eine Ansprechperson mit Knowhow und eine klare Aufgabenteilung gibt: «Gewisse Dinge klärt tipiti, und das ist gut.»

Glücksmomente

Wenn Karim sich zu Lucia aufs Sofa setzt und den Kopf an sie lehnt, ohne etwas zu sagen, ist das für sie ein glücklicher Moment der Nähe ohne Worte. Oder wenn er sich in schwierigeren Momenten in seiner Not und Verletzlichkeit zeigt und sie dann gemeinsam etwas klären können. Wenn sie ihn neckisch und unbeschwert erleben dürfen. Andi geniesst, dass es wieder Familienzeit gibt, wenn sie spielen oder sich beim Liegestützenmachen gegenseitig fordern. Das verbindet.

Kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede

Zu spüren, was das gute Mass ist, die richtige Geschwindigkeit für die Integration, wieviel er verdauen kann, ist herausfordernd. Karim ziehe sich zum Beispiel zurück, wenn viele Leute da seien, das sei zu anstrengend für ihn, und er, gibt Andi zu, finde es manchmal schwierig, dies als Karims Grenzen zu sehen und zu respektieren.

«Manchmal weiss ich nicht, warum er so oder anders reagiert, bin irritiert, warum ihm etwas in den falschen Hals gerät», erzählt Lucia. «Zwischendurch kann die Stimmung im Haus auch schwer sein. Manchmal erfährt man, warum, manchmal nicht. Dann sag' ich mir: Nicht auf mich münzen. Das ist seine Befindlichkeit.» Dies löse sich aber immer wieder auf.

Es gebe schon auch herausfordernde Dinge: Wenn sie zum Beispiel etwas Kreatives kochten und er den Deckel von der Pfanne nehme und «oioioi!» sage. Hier müssten sie noch herausfinden, wie er offener werden könne. «Im Zweifelsfall wirft er drei Eier in die Pfanne – eine gute Übung für uns.» Doch es sei eine Grundsympathie da. «Humor macht's aus», schmunzelt Andi, «ich kann einen Spruch machen und er lacht.» Schön sind für Lucia die Momente, wenn Karim seine Musik abspielen lässt, in Bühler, Appenzell Ausserrhoden, afghanische Klänge ertönen und Celestina dazu tanzt. Wenn Karim beim Türken Hamburger holt und sie in die Pfanne wirft, erzählt sie weiter, «ist das eigentlich schlimm für mich: Ich esse Gemüse, er Hamburger. Aber er ist dann so glücklich, dass ich loslasse, obwohl es mich 'schellt' ...» Ihm Dinge zu ermöglichen, die ihre eigenen Grenzen sprengen, und das zu überwinden, sei ein persönlicher Gewinn für sie. «Mein Horizont erweitert sich», ergänzt Andi, denn die ganze Asylproblematik rücke durch Karim näher und sie seien aufgefordert, ihre Haltung zu überdenken.

Pläne?

Andi will mit Karim klären, was er antworten soll, wenn jemand fragt: Ist das dein Sohn? Ob er dann sagen soll, er sei sein Gast oder sein Pflegesohn? Auch plant er, die Fluxbox, das tipiti Online-Werkzeug für Biografiearbeit, einzusetzen. «Vielleicht kann sich Karim dafür interessieren, wenn er mich das selber am Laptop tun sieht.» Beide, Lucia und Andi, möchten mehr auf das gemeinsame Erlebnis setzen, auch im Alltag, auch einfache Erlebnisse in der Natur, und herausfinden, was für Karim attraktiv ist. Vielleicht mal an den Weissbach?

Aufgezeichnet von Donat Rade