<<Ich wüsste einfach vieles nicht.>>
Denise Moos (47) arbeitete jahrelang als Primarlehrerin und in einem Kinderheim. Sie und ihr Mann Markus haben zusammen ihre drei leiblichen Kinder und seit acht Jahren ihre Pflegetochter mit Behinderung, sind zudem Kontaktfamilie für eine Jugendliche, die in einer anderen Pflegefamilie lebt, zu deren Entlastung an Wochenenden und für Ferien. Denise Moos bildet sich laufend weiter, seit sie auch Pflegemutter ist. Im Interview erzählt sie, dass sie sich ihre anspruchsvolle Arbeit ohne ständige Weiterbildung schlicht nicht vorstellen könnte.
Sie sind vollberuflich Mutter und Pflegemutter?
Denise Moos: Seit wir eigene Kinder haben, bin ich vollberuflich Familienfrau, als Pflegemutter bei tipiti seit acht Jahren angestellt. Vor einem Jahr stieg ich zusätzlich beim Beratungsteam von «eltern7x24.ch» ein, einem Coaching-Angebot für Pflege- und Adoptiveltern.
Liesse es sich mit dem Lohn leben, den man als Pflegemutter bekommt?
Nein, das wäre nicht möglich, ich bin froh, dass mein Mann neunzig90 Prozent arbeitet., Uum davon leben zu können, müssten wir mehrere Pflegekinder aufnehmen.
Sie sind ausgebildete Pädagogin, haben Erfahrung als Betreuerin von Kindern in Institutionen. Wie fühlten Sie sich vorbereitet, bevor Sie ein Pflegekind aufnahmen?
Wir mussten lange Zeit davon ausgehen, es gebe keine eigenen Kinder. So meldeten wir uns bei Espoir, die im Raum Zürich für Pflegekinder tätig sind. Sie luden uns zum Gespräch und einem Einführungskurs ein. Just dann wurde ich schwanger und unsere drei Kinder kamen zur Welt. Zehn Jahre später, wir wohnten inzwischen am Bodensee, vermittelte Espoir uns an tipiti in der Ostschweiz, wo wir deren Einführungskurs besuchten. Nun sagt man ja, ich sei pädagogisch ausgebildet, aber was wir im Seminar an Psychologie und Pädagogik lernten, war im Umgang mit Kindern in der Praxis kaum anwendbar. Klar, ich war Primarlehrerin, leitete Kinderlager, hatte immer mit Kindern zu tun und von daher eine gewisse Erfahrung. Wir trauten es uns sicherlich zu, hatten ja unsere drei Kinder. Was dann dazu kam: VikiLelia Wickihat das Downsyndrom. Wir hatten keine Ahnung von dieser Behinderung. Ich fühlte mich nicht kompetent. Wir merkten aber, dass wir von Ärzten, Spezialistinnen und den Fachbegleiter*innen von tipiti umgeben sind, an die wir uns wenden können, wenn wir nicht weiterwissen.. Zund wurden zusätzlich unterstützte uns während der die ersten paar Jahre wöchentlich von einer wunderbaren heilpädagogischen Früherzieherin wöchentlich begleitet und unterstützt. .
Sie besuchten ständig Weiterbildungen. Lag Ihnen das persönlich am Herzen oder wurden Ihnen diese empfohlen?
Bereits im Einführungskurs wurde uns gesagt, ein oder beide Elternteile müssten einen Grundausbildungskurs machen, damals noch die «Ausbildung zur qualifizierten Erziehung von Pflegekindern». Den absolvierte ich und genoss es, mich mit anderen Pflegeeltern zu vernetzen und viel zu lernen; es ist ein sehr guter Kurs, der sich bis heute weiterentwickelt hat. Die praxisbezogenen Inhalte bringen einem viel, man reflektiert die eigene Arbeit intensiv, klärt die eigene Motivation, geht sehr in die Tiefe. Parallel besuchte ich noch andere Kurse, der nachhaltigste war Gewaltfreier Widerstand, weil er meine Erziehungshaltung stark veränderte – ein zehntägiger Zertifikatskurs von tipiti. Es gab eine Phase, in der unser leiblicher Sohn viel Aggression von der Schule nachhause brachte und ich, als sogenannte Pädagogin, mit all der Erfahrung, mit dem eigenen Kind an den Anschlag kam. Ich schämte mich dafür. Weil wir aber bei tipiti waren, konnten wir nach Hilfe rufen, unsere persönliche Coach empfahl uns den Gewaltfreien Widerstand. Ich lernte wahnsinnig unglaublich viel. Der Leitspruch im Gewaltfreien Widerstand heisst: «Das Eisen schmieden, wenn es kalt ist». Also nicht in dem Moment zu meinen, man müsse erziehen, wenn das Kind sowieso schon eskaliert, das ist der falsche Moment, dann kommt beim Kind nichts an, man eskaliert quasi mit dem Kind. Mit dem Gewaltfreien Widerstand lernte ich zu sagen: «Ich bin nicht einverstanden wie du reagierst, ich komme darauf zurück», aus der Situation herauszutreten, zu warten, bis das Kind runtergekommen ist und dann darauf zurückzukommen. Dann kann man miteinander reden und Lösungen suchen.
Interessierten Sie noch weitere Kurse?
Ja, zum Beispiel der dreitägige Grundkurs Biografiearbeit, dann bei derselben Kursleiterin eine dreitägige Schreibwerkstatt, wo es darum ging, wie ich schwierige Geschichten im Pflegekinderbereich zu Papier bringe, um diese auch weitergeben zu können. Dann besuchten mein Mann und ich ein dreitägiges Traumapädagogik-Seminar, ich besuchte einen Kurs Kontakt zur Herkunftsfamilie. Irmela Wiemanns achtungsvolle Haltung den Herkunftseltern gegenüber hat mich inspiriert. Sie fordert einen auf, die eigene Haltung der Herkunftsfamilie gegenüber zu hinterfragen, sich in diese Eltern hineinzuversetzen und nicht einfach als die Bösen hinzustellen, die alles falsch gemacht haben und dessen Kind ich jetzt beschützen muss, nicht entschuldigend, aber auch nicht anklagend, sondern im Verständnis für ihre Situation.
Sind Sie durch Ihre Erfahrung und die Kurse zu einer Expertin geworden?
Das ist ein grosses Wort. Sicherlich konnte ich mir viel Wissen erarbeiten und in der Familie erleben. Aber ich bin immer noch Lernende.
Könnten Sie sich vorstellen, ohne Ihre Aus- und Weiterbildungen Pflegemutter zu sein?
Schlicht nicht. Ich wüsste vieles einfach nicht! Gerade wenn es um die Haltung geht, gerade dem Herkunftssystem eines Pflegekindes gegenüber, braucht es Weiterbildung und Leute, die einem erklären, wie man am besten damit umgeht. Auch Erziehungstheorie, bei der ich merke, klar hätte ich es irgendwie hingekriegt, es gibt andere Eltern, die komplett allein sind und niemand haben, der sie begleitet. Ich bin überzeugt, dass man diese Arbeit nicht gleich gut machen kann.
Kann man die fachliche Begleitung durch tipiti in einem weiteren Sinn als ein ständiges Weiterbildungsinstrument ansehen?
Das kann man so sagen, und zwar nicht im Sinn von «die wissen alles», sondern immer als Austausch auf Augenhöhe und gemeinsames Reflektieren, in ständiger Auseinandersetzung. Somit kann man diese Fachbegleitung sicherlich als ständige Weiterbildung ansehen.
Sind diese Weiterbildungen für Sie eigentlich kostenlos oder müssen Sie sie selber finanzieren?
Alle tipiti Kurse, die auch auf der Website aufgeschaltet sind, sind kostenlos. Wir sehen dieses Angebot als Lohnbestandteil, das finden wir sehr grosszügig. Sie unterstützen das von A bis Z.
Wenn wir uns acht Jahre zurückversetzen, Sie fragen, ob Sie ein Pflegekind aufnehmen würden. Würden Sie es wieder tun?
Da kann ich von ganzem Herzen sagen: Ja, auf jeden Fall.
Welcher Anteil daran hat mit diesem Setting der Begleitung und Weiterbildung zu tun?
Wir wären gar nicht eingestiegen ohne die Begleitung durch tipiti. Sie war die Grundlage unserer Entscheidung.
Würden Sie auch all diese Kurse wieder besuchen?
Ich denke schon. Es gibt auch noch Kurse, die ich noch nicht besucht habe und gerne noch machen würde. Ich lerne gerne, wobei es mir wichtig ist, die gelernte Theorie mit der Praxis zu verbinden. Und in meinem Alltag als Pflegemutter finde ich dieses stetige Weiterlernen wunderschön, weil es mich selbst auch weiterbringt.
Wie zufrieden sind Sie mit dem Bildungsangebot von tipiti auf einer Skala von 1 bis 10?
Ich sage mit gutem Gefühl: 10. Vielleicht gibt es Pflegeeltern, die das anders sehen, aber mir persönlich kommt kein Kurs in den Sinn, den ich nicht gut fand.
Welche Veränderung im Pflegekindersystem wünschten Sie sich ganz allgemein?
Ich wünschte mir für jede Pflegefamilie eine Begleitung. Es passiert ja heute noch, dass Kinder direkt platziert werden. Viele Pflegeeltern kommen sehr an ihre Grenzen und sind sehr alleine, und das wirkt sich als Mangel an Sicherheit stark auf das Pflegekind aus. Wenn man Platzierungen schützen wollte, müssten die Behörden eine Begleitung bezahlen.
Haben Sie zusätzlich zu Ihrer Rolle als Mutter und Pflegemutter einen Zukunftstraum?
Bald beginne ich eine dreijährige Beratungsausbildung, die sehr familienfreundlich organisiert ist. Ich bin ja schon in der Beratung für Pflege- und Adoptiveltern tätig, kann mir jetzt ein staatlich anerkanntes Diplom erarbeiten und mir eine berufliche Perspektive schaffen.