Ein forderndes Jahr
In der Langzeitpflege verzeichneten wir viele Anfragen für Platzierungen mehrerer Geschwister und vermehrt Anfragen für Notfallplatzierungen mit unklarer Perspektive. Die Übergangspflege war sehr gefordert aufgrund hoher Fallzahlen, vieler begleiteter Besuche sowie wegen gleichzeitig stattfindender Übergänge von Kindern in ihre Adoptiv-familien oder in andere Anschlusslösungen. Bei den Zweigfamilien erforderte eine personelle Lücke einen Stopp der Neuaufnahmen in der Begleitung. Mit der personellen Neubesetzung können wir wieder neue Fälle aufnehmen. (pz)
Benno ist neunzehn Monate lang in Übergangspflege – eine von vielen Geschichten, mit denen wir täglich zu tun haben.
Von Andrea Rechenmacher, tipiti Facheraterin Übergangspflege
Bennos Eltern sind beide kognitiv beeinträchtigt und Anfang zwanzig, als er zur Welt kommt. Vor der Geburt konnten sie sich ein Leben mit Kind nicht vorstellen können und beschlossen, ihn zur Adoption freizugeben. Kurz nach Bennos Geburt ändern sie ihre Meinung und möchten ihn behalten. Zu diesem Zeitpunkt ist er allerdings schon in einer Übergangspflegefamilie platziert. Für Bennos Beiständin und die Behörden steht fest, dass ein Wechsel zu den Eltern nicht so ohne weiteres möglich ist: Beide Elternteile leben noch bei deren eigenen Eltern, haben dort kaum Unterstützung und beide arbeiten Vollzeit an einem geschützten Arbeitsplatz.
Welche Perspektive ist realistisch?
Damit eine Beziehung zwischen Benno und seinen Eltern aufgebaut werden kann, werden zweiwöchentliche Besuchskontakte vereinbart. Die Eltern brauchen viel Anleitung im Umgang mit Benno; häufig stehen eigene oder Paarthemen im Vordergrund. Deshalb begleitet eine tipiti-Fachberaterin die Besuche.
Bennos Beiständin arbeitet mit den Eltern an der Zukunftsperspektive: Ist es realistisch, dass sie irgendwann selbstständig für Benno sorgen können? Wäre ein Eintritt in ein Eltern-Kind-Heim eine Option? Dieses Ziel verfolgen die Eltern eine Weile lang – bis sie realisieren, dass eine·r von ihnen die Arbeit vorläufig aufgeben müsste, um ganz für Benno da zu sein. Sie möchten jedoch beide weiterarbeiten und sich in der Freizeit gemeinsam um Benno kümmern.
Ein achtsamer Prozess, der Zeit braucht
Bennos Beiständin ist es ein Anliegen, nicht einfach über die Eltern zu verfügen. Trotzdem muss sie ihnen klarmachen, dass sie keine «Jeden-Tag-Eltern» für Benno sein können, zumal bei ihm eine Cerebralparese diagnostiziert wurde und unklar ist, wieviel Unterstützung er brauchen wird. Zusätzlich erschwert ein Finanzierungskonflikt zwischen zwei Gemeinden bzw. Kantonen die Zukunftsplanung. So verstreicht viel Zeit, bis die Beiständin nach fünfzehn Monaten endlich eine Familie findet, die Benno in Langzeitpflege nehmen würde. Nach verschiedenen Kennenlerntreffen und dem allseitigen Entscheid für Bennos Platzierung beginnt eine dreimonatige Übergangszeit, in welcher sich die Übergangspflege- und die Langzeitpflegefamilie intensiv besuchen, um Benno einen sanften Übergang zu ermöglichen. Diese Situation ist für die Übergangspflegefamilie nicht einfach auszuhalten und braucht viel Feingefühl.
Übergangspflege dauert immer länger.
Es war ein intensives Jahr im Bereich der Übergangspflege. Unsere Pflegefamilien betreuten durchschnittlich 11.5 Säuglinge und Kleinkinder. Im Verlauf des Jahres wurden 9 davon weiterplatziert, 7 neue kamen dazu. Die Tendenz der letzten Jahre setzte sich fort: Es dauert immer länger, bis entschieden wird, wo die Kinder langfristig aufwachsen können, vor allem wenn es keine Adoption gibt. So verbleiben sie immer länger in Übergangspflege, im Jahr 2022 durchschnittlich 13 Monate.
Je länger, desto anspruchsvoller
Idealerweise sollte ein Säugling nicht länger als sechs Monate in Übergangspflege bleiben, damit sein primärer Bindungsaufbau, welcher zwischen dem siebten und zwölften Lebensmonat stattfindet, bei den Personen geschehen kann, wo er langfristig aufwachsen darf.
Wie die Statistik zeigt, sind die meisten Kinder älter als sechs Monate, wenn sie zu ihren neuen Eltern wechseln. Dies bedeutet, dass der Beziehungsaufbau viel sorgfältiger geplant und dem Tempo der Kinder angepasst werden muss. Nach zwölf Monaten haben sich die Kinder in der Regel fest an die Übergangspflegefamilie gebunden, und der Abschied wird für beide Seiten schmerzhaft. Dies hat zur Folge, dass auch die Begleitung durch Fachpersonen (z.B. Fachberaterin tipiti) intensiver und anspruchsvoller wird.
Entlastung, Weiterbildung, Coaching
Damit die Übergangspflegefamilien sich ganz auf die Betreuung der Kinder konzentrieren können, braucht es ein tragfähiges Netz um sie herum. Und sie brauchen Orte, wo sie wieder auftanken können, sei dies in Weiterbildungen, bei Austauschtreffen oder in Supervision. Je älter die Kinder werden, desto intensiver wird auch die Begleitung und Unterstützung der Übergangspflegefamilien durch Fachpersonen von tipiti. Gerade Fälle, in denen regelmässig begleitete Besuche stattfinden, binden viele Ressourcen. Deshalb bilden wir einige ehemalige Übergangspflegemütter darin aus, aktive Übergangspflegefamilien zu begleiten und zu coachen, z.B. in Übergängen oder in Besuchssituationen. So können wir gewährleisten, dass die Übergangspflegefamilien den gestiegenen Anforderungen gerecht werden und langfristig tragfähig bleiben. (ar)
Bedingungslose Liebe
Von Helene Löffel, Fachberaterin tipiti Zweigfamilien
Was würde die kleine Amira (15 Monate) über ihre Lebenssituation sagen, wenn sie schon sprechen und differenziert nachdenken könnte? Wir wissen es nicht. Um ihre mögliche Sicht zu veranschaulichen, legen wir ihr die folgenden Worte in den Mund:
«Ich heisse Amira und habe mega Glück. Meine Mama kommt aus Algerien und ist beeinträchtigt. Ich bin in der Schweiz geboren und darf bei Mama, Tante Awatef und ihren Kindern gross werden. Dank ihnen lerne ich meine Herkunft kennen, auch wenn ich in der Schweiz aufwachse. Tante Awatef hat um mich gekämpft.»
Was wir wissen:
Amiras Tante und Pflegemutter Awatef lebt seit über zwanzig Jahren in der Schweiz und besitzt eine Aufenthaltsbewilligung C (Niederlassungsbewilligung, Anm. d. Redaktion). Sie ist alleinerziehend, ihre Kinder sind zehn und neun Jahre alt. Sie arbeitete als Hotelangestellte und war immer finanziell unabhängig. Anfang 2021 erlitt sie einen Unfall und konnte der körperlich anspruchsvollen Arbeit nicht mehr nachgehen. 2020 war ihre Schwester Asya als Flüchtling in die Schweiz gekommen und gebar 2021 ihre Tochter Amira. Zu der Zeit stand Tante Awatef selbst in einer IV-Abklärung, doch sie wollte unbedingt für ihre beeinträchtige Schwester und deren Baby sorgen. So kämpfte sie um eine Pflegeplatzbewilligung.
Tante Awatef muss eine starke Frau sein.
Die Betreuung und Pflege von Asya, Amira und der eigenen Kinder als alleinerziehende Mutter ist mehr als ein Hundertprozent-Job. Trotzdem muss sie eine Teilzeitstelle zu suchen, um über die Runden zu kommen. Da die Schwester und ihr Kind Flüchtlinge sind, werden andere Ansätze für den Unterhalt bezahlt als sonst bei Pflegekindern. Für Awatef ist das schwierig zu verstehen, denn ein Mutter-Kind-Heim für die beiden würde ein Vielfaches kosten. Awatef hatte unzählige Amts-, Arzt- und Spitaltermine mit beiden – zudem chauffiert sie Asya zum Deutschkurs. Da die Mutter eine vererbbare Krankheit hat, brauchte es bei Amira viele Abklärungen. Aber Awatef ist eine Kämpferin und unverbesserliche Optimistin. Sie holt ihre Kraft aus ihrem Glauben und der Sicherheit, dass es kommt, wie es muss. Bei jedem Besuch stehen duftender Kaffee und Gebäck bereit – Gastfreundschaft pur!
Und zum Anschauen:
tipiti Videblog #5 und #6 über eine Pflegejugendliche und eine Pflegefamilie