«Kein Kind darf auf der Strecke bleiben.»
Ausführliche Version des Interviews mit Rolf Widmer
Seit vierzig Jahren besteht der Verein tipiti (ex-VHPG). Wir schauen im Gespräch mit Gründer und Leiter Rolf Widmer zurück und lenken den Blick auf die Zukunft: Das Flüchtlingsprojekt in Appenzell Ausserrhoden.
Interview: Thomas Graf, kommunikationsberater.ch
Welches war 1976 der Auslöser, den VHPG in Trogen zu gründen?
Rolf Widmer: Ich war in der Kinderpsychiatrie tätig. Man wusste viel über Kinder, orientierte sich aber vor allem an ihren Defiziten. Wir überlegten, wie wir zuerst die Bedürfnisse der Kinder erfassen und Möglichkeiten in ihrem Umfeld suchen könnten. Es brauchte ein personenzentriertes Angebot. Wenn ein Kind ein verlässliches Beziehungsnetz brauchte, fanden wir familienähnliche Lebensformen besser als die gängigen Heime mit ihren vorgegebenen Strukturen.
Wie sah euer Modell aus?
RW: Es stützte sich auf drei Eckpfeiler: konstante Beziehungen, ein möglichst natürliches Umfeld und individuelle Förderung. Wir bauten ein vernetztes Angebot auf: familiäres Umfeld mit Individualschule. Wir wollten nicht, dass Kinder ausgeschlossen würden, weil die öffentliche Schule ihnen nicht gerecht werden konnte. Viele der Kinder, die man als Sonderschüler bezeichnete, schafften nach zwei, drei Jahren den Anschluss an die öffentliche Schule. Wohl weil ihnen das emotional verlässliche Umfeld das Selbstvertrauen stärkte. Dies ist für die intellektuelle Entwicklung von Kindern ausschlaggebend.
Tipiti ist heute ein Betrieb mit einem 9-Millionen-Budget – eine Erfolgsgeschichte?
Ist Wachsen schon Erfolg? Im Zentrum standen immer die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Wir sind gewachsen, weil wir unser Angebot auf die individuellen Entwicklungsbedürfnisse der Kinder ausrichten und die Infrastrukturkosten niedrig halten. Heute betreuen wir mehr als 140 Kinder in unseren Angeboten.
In den 1990er-Jahren entstand das Bedürfnis nach Ausbildung für die Betreuungspersonen.
Ursprünglich arbeiteten wir mit ausgebildeten Sozialpädagogen zusammen. Dadurch war das Wissen vorhanden. Später vernetzten wir mehrere Familien, um den fachlichen Austausch zu pflegen, gemeinsame Supervisionen sind seither Teil unseres Konzepts. Ab den Neunzigerjahren boten wir Betreuungsplätze für Flüchtlingskinder in Pflegefamilien an und begannen, die Betreuenden auszubilden. Daraus entstand die 30tägige Ausbildung für Pflegeltern.
Kind kommt vor Struktur
Was ist das Besondere an tipiti?
Tipiti ist ein Rahmen, wo Menschen sich in besonderer Art für Kinder engagieren wollen. Wir suchen vom Kind aus nach Lösungen und nicht von den Strukturen her. Das Kind soll den Lebensmittelpunkt dort haben, wo es lebt. Unsere Mitarbeiter sollen fähig sein, die Entwicklung der Kinder zu fördern. Die meisten Institutionen bauen zuerst ein grosses Haus und müssen dieses dann füllen. Wir investieren nicht in Immobilien; so sind wir flexibel und können unsere Strukturen der Zeit und den Menschen anpassen.
Was war für dich das Highlight dieser vierzig Jahre?
Dass es so viele Menschen gibt, die sich für Kinder engagieren möchten, und dass tipiti ihnen dies ermöglichen kann. Wichtig ist, dass die Betreuungspersonen mit und nicht für die Kinder leben, die Kinder also an ihrem Leben teilhaben lassen.
Gab es Niederlagen?
Natürlich zeigten sich Grenzen. Manche Kinder führen heute trotz allem Engagement ihrer Pflegeeltern und/oder Lehrer ein schwieriges Leben. Die Kinder kommen meist eher aus der Unterschicht. Bei uns leben die Kinder in einem sozialen Mittelschichts-Umfeld. Sobald es aber um die eigenen Beziehungen geht, finden viele Kinder keinen Anschluss in diesem Umfeld. Mich schmerzt, dass unsere Gesellschaft diese Unterschiede macht. Ich war anfangs idealistischer, glaubte, unsere Kinder würden dank neuer Beziehungen und Identifikationsfiguren ihr Potential entwickeln. Das Erlebte in den ersten Lebensjahren bleibt ein Teil der Belastung, die unsere Pflegekinder auch in der Zukunft mittragen. Ich dachte, das neue Umfeld könne dies kompensieren. Das war aber nur zum Teil möglich.
Begleitung ins Erwachsenenleben
Der Verein führt Kleingruppenschulen an mehreren Standorten. Die Bildungspolitik tendiert wieder zur Integration in Regelklassen. Was bedeutete das für euch?
Ursprünglich baute tipiti Schulen auf, um auch Kinder mit Sonderschulproblemen aufnehmen zu können. Nachdem die meisten Kinder aus den tipiti-Familien den Schritt in Regelschulen schafften, gab es Überlegungen, die Schulen zu schliessen. Es wurden in der Region immer wieder Kinder fremdplatziert, die Sonderschulung brauchten. So funktionierten wir unsere Schulen zu Tagessonderschulen um. Auch hier gilt: Jedes Kind soll in möglichst konstanten Lebensräumen aufwachsen können. Das Besondere ist, dass die Kinder nach der Primarschule auch eine Oberstufe besuchen und selbst danach in der Ausbildung bis zur eigenen Selbständigkeit begleitet werden können.
Es braucht also eure Schulen noch?
Wir selbst haben uns diese Frage auch gestellt, klar. Wenn die Integrationsschulen in der Lage wären, allen Kindern gerecht zu werden, hätten wir unsere Konsequenzen daraus gezogen. Es zeigt sich aber, dass einige Kinder mit besonderen Belastungen in Integrationsschulen keine Erfolgserlebnisse haben können. Diese Kinder brauchen den geschützten Raum einer «Individualschule», um sich zu entwickeln. Aber wir wollen diese Kinder wenn möglich in die Regelschulen integrieren. Oder zumindest für einen Anschluss sorgen, damit sie eine Ausbildung in der freien Wirtschaft machen können.
Die Zukunft
Weltweit sind Millionen Menschen auf der Flucht. Wie setzt sich tipiti mit den aktuellen Flüchtlingskindern auseinander?
In der Kinderrechtskonvention und in unserem Leitbild steht, jedes Kind habe ein Recht darauf, Kind zu sein, unabhängig von seiner Herkunft, Hautfarbe und Religion. Das gilt auch in der Schweiz, auch für Flüchtlingskinder. Trotzdem wird in zwei Kategorien gedacht. Man geht davon aus, diese Menschen blieben nur vorübergehend. Wir wissen, dass wir früh in Kinder investieren müssen, damit sie sich positiv entwickeln können und trotz einer belasteten Vergangenheit eine Zukunft gestalten können. Deshalb werden wir im Auftrag des Kantons AR alle unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, die neu zugewiesen werden, begleiten. Wir wollen sie bis ins Erwachsenenalter von denselben Bezugspersonen unterstützen lassen. Mit jedem wollen wir für seine Integration hier oder im Heimatland eine individuell passende Lösung entwickeln.
Wie soll das geschehen?
Wir arbeiten in kleinen konstanten Betreuungseinheiten von etwa 30 Kindern/Jugendlichen. In einer ersten Phase eruieren wir, welche Möglichkeiten bei jedem einzelnen bestehen und was seine Zukunftspläne sind. So können wir individuelle Lösungen erarbeiten. Der Kanton mietet den Wohnraum im Kinderdorf Pestalozzi, tipiti übernimmt die fachliche Leitung und Betreuung im Auftrag des Kantons und der Gemeinden.
Vor kurzem bist du in den Unruhestand getreten. Wie siehst du die Zukunft von tipiti und dir persönlich?
Ich könnte mir vorstellen, zum 50-Jahr-Jubiläum in zehn Jahren einem neuen Leitungsteam die vorhandenen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um etwas Neues zu schaffen. Ich fühle mich körperlich und geistig gesund und hoffe, tipiti die nächsten Jahre weiter begleiten zu können. Ich bin mir aber bewusst, dass ein Übergangsprozess wird stattfinden müssen.