Pflegekinder und -familien

Berichte von Pflegekindern und -jugendlichen

Pflegekinder, Pflegefamilien

Foto oben links: Leen beeindruckt mit ihrem Solo (Foto: Jürgen Dirk Weinert)

Vertrauen lernen – und ein Gänsehautmoment

Fachberaterin Nicole de Gois erzählt

Leen ist siebzehn und lebt als Pflegekind bei ihrer Grossmutter Sandra, seit sie acht Jahre alt war. Sie besucht das Berufsvorbereitungsjahr an der GBS St. Gallen. Die Aufsicht empfahl Sandra vor zwei Jahren, die Zweigfamilienbegleitung* von tipiti in Anspruch zu nehmen. Seither begleite ich Leen. In den ersten Wochen bekam ich zu spüren – respektvoll, aber deutlich –, dass sie wenig Offenheit für eine Begleitung hatte. Termine wurden hinausgezögert, mal war es nach den Ferien ungünstig, dann vor den Ferien, nach den Ferien standen bereits die nächsten Ferien bevor. Doch mit der Zeit entstand ein verlässlicher Kontakt, der sich zu einer offenen und vertrauensvollen Beziehung entwickelte. Heute lachen wir manchmal über jene Startschwierigkeiten.

Lernkurve als Fachberaterin

Sandra spielte eine wichtige Rolle in meinem eigenen Wachstum als tipiti-Fachberaterin. Durch ihre Ehrlichkeit lernte ich viel über die Balance zwischen Nähe und Distanz, Zutrauen und Stärken, Loslassen und Raum Geben. Mit der Zeit erkannten Sandra und Leen, dass ich da war, um sie zu unterstützen, ihre anfänglichen Vorbehalte lösten sich plötzlich auf.

Wenn eine Jugendliche über sich hinauswächst …

Schon mehrmals hatten Leens Lehrpersonen sie auf ihre beeindruckende Stimme angesprochen. Grossmutter Sandra singt seit Jahren in einem Chor; da Leen sehr auf sie fixiert war, wollte Sandra den Chor als eigenen Raum für sich behalten. Doch hatte sie versprochen, Leen einmal mitzunehmen; dank ihren unterschiedlichen Singstimmen konnte Leen so eigene Erfahrungen sammeln. Als sie dann beim Chorleiter vorsang, bekam Leen direkt ein Solo. Sie eröffnete das Konzert mit ihrer kraftvollen und wunderschönen Stimme – ein Gänsehautmoment! Sie war die Jüngste im Chor und erhielt Komplimente von Chormitgliedern und aus dem Publikum, ihr Mut und ihre Energie beeindruckten und berührten alle.

Vertrauen und Wachstum fördern

Leen nutzte den Moment und wuchs über sich hinaus. Ihr lang gehegter Wunsch, Solo-Gesangsunterricht zu nehmen, wird durch tipiti mitfinanziert, auch dank der Unterstützung durch Personen aus der Zivilgesellschaft. Damit möchte Leen nicht nur ihre Gesangstechnik verbessern, sondern auch ihr Auftreten stärken – eine wertvolle Kompetenz auch fürs Berufsleben. Diese Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie wichtig gegenseitiges Vertrauen ist. Es ermöglicht allen Beteiligten, miteinander zu wachsen und neue Wege zu beschreiten.

*Bei tipiti sind "Zweigfamilien" Pflegefamilien, die Kinder aus ihren erweiterten Familien oder dem Bekanntenkreis aufnehmen, beispielsweise Tanten oder Grosseltern. Sie bieten den Kindern ein vertrautes Umfeld und erhalten dabei professionelle Unterstützung durch tipiti.

«Milas Wachstum gibt uns neue Energie»

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Foto oben rechts: Die Pflegeeltern Bühlmann mit Mila*

Beatrice und Roland Bühlmann aus Bern sind seit anderthalb Jahren Milas* Übergangspflegeeltern. Es ist nicht das erste Mal für Bühlmanns, aber besonders aufregend, weil Mila viel zu früh und mit Beeinträchtigungen zur Welt kam.

Von Fachberaterin Andrea Rechenmacher

Was geschah, nachdem wir euch anfragten, ob ihr Mila* vorübergehend betreuen würdet?

Beatrice: Wir freuten uns, wieder ein Baby begleiten zu dürfen. Wir hatten auch Respekt: Wie umgehen mit Milas Beeinträchtigungen? Schaffen wir das?

Roland: Wir fuhren ins Spital, um sie kennenzulernen. Beatrice blieb zehn Tage bei ihr, ich bereitete zu Hause alles vor, was es so braucht.

Beatrice: Ich konnte Mila besser kennenlernen, ihren Tagesablauf, ihre Therapien, konnte mit den Ärzten und Spezialistinnen reden. Das war auch wertvoll hinsichtlich der späteren Therapien in Bern.

Wie war die erste Zeit mit Mila zuhause?

Roland: Schön! Wir wollten Mila viel Nähe geben und schauen, was sie braucht, wie sie auf unser Zuhause reagiert.

War es mit ihr anders als mit anderen Kindern?

Sie reagierte manchmal schon etwas anders, aber gefühlsmässig war es wie bei anderen Kindern. Anders war das Drumherum: Zu den regulären Kinderarztterminen kamen Physiotherapie und medizinische Kontrollen im Spital. Schon früh war zu beobachten, dass sich Mila nicht altersentsprechend entwickelt. Wir begannen uns zu informieren, was die Beeinträchtigungen für Mila bedeuten könnten.

Welche Herausforderungen und Glücksmomente gibt es im Alltag mit Mila?

Eine Herausforderung ist, alle ihre Termine, einen Tagesrhythmus mit Ritualen und die therapeutischen Massnahmen – zum Beispiel Orthesen anziehen – unter einen Hut zu bringen. Als Glücksmomente empfinden wir ihr Lachen: Mila ist so zufrieden und fröhlich. Sie ist hoch motiviert bei allem, was wir mit ihr üben, in jeder Therapie. Sie will neue Sachen unbedingt lernen, hat einen starken Willen und probiert immer wieder, bis es geht.

Ihr habt euch viel Wissen über Milas Beeinträchtigungen angeeignet. Seid ihr auch an ihrer Betreuung gewachsen?

Zu Beginn, wenn wieder etwas Neues kam, fragten wir uns oft, wie wir das schaffen sollten. Und heute ist es Alltag. Auch für unsere Kinder gehört Mila einfach dazu.

Mila hat unglaubliche Fortschritte gemacht. Ihr habt dieses Wachstum ermöglicht.

Ja, sie kann trotz ihrer Spastik die Finger bewegen, selbst essen oder mit den Orthesen gehen mit unserer Unterstützung. Wir feiern jeweils, wenn sie etwas Neues gelernt hat. Es ist uns wichtig, nicht nur Therapien zu machen, sondern auch Dinge, die altersentsprechend wären, z.B. in den Zoo gehen, in eine Krabbelgruppe. An solchen Sachen wächst sie ja auch, nicht nur in der Physiotherapie. Und einen normalen Familienalltag leben.

Wie tankt ihr neue Energie?

Zu sehen, wie Mila sich entwickelt, macht Spass, gibt Energie. Ein Wellnesswochenende könnte uns nicht mehr geben!

* Name geändert

 

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Ein Neubeginn voller Hoffnung

Ukraine, Pflege-Grossfamilien, ukrainische Geflüchtete

Von Yves Eberle, Fachberater

Als der Krieg in der Ukraine im Frühjahr 2022 Tausende zur Flucht zwang, eröffnete der Verein tipiti elternlosen Kindern und ihren Pflegefamilien eine Perspektive: Einen sicheren Zufluchtsort in der Schweiz mit Schutz, Stabilität und der Chance auf eine neue Zukunft. Doch ein sicherer Ort allein reicht nicht – die Bewältigung des Alltags, die schulische Eingliederung oder berufliche Orientierung erfordern Begleitung. Deshalb steht unser engagiertes Fachteam den Pflegefamilien und Kindern zur Seite. Diese Unterstützung ermöglichte den Familien auch ein Wachsen in einer neuen Heimat.

Polina findet ein neues Zuhause in der Schweiz

Eines dieser Kinder ist Polina, ein zehnjähriges Mädchen, das mit ihrem Bruder, ihren sieben Pflegegeschwistern und ihren Pflegeeltern Oleksandr und Iryna heute in ihrem neuen Zuhause in Rehetobel wohnt. Als ich Polina besuche, begrüsst sie mich mit einem fröhlichen "Hoi, Yves". Sie spricht nicht nur fliessend Hochdeutsch, sondern auch Schweizerdeutsch. Stolz erzählt sie mir von ihrem Alltag, ihren Erfolgen und den Herausforderungen, die sie in der Schweiz gemeistert hat.

Sportliche und schulische Erfolge

Polina sprüht vor Begeisterung, wenn sie von ihrem grössten Hobby erzählt: dem Geräteturnen. Hier gibt sie ihr Bestes. Bei Wettkämpfen konnte sie bereits Erfolge feiern – ein Kuscheltier, das sie bei einem Turnier gewann, begleitet sie als Glücksbringer. Obwohl sie zu Beginn Angst hatte, ist sie mittlerweile in ihrer Sportwelt angekommen. Mut, sagt sie, bedeutet für sie, stolz auf sich zu sein und niemals aufzugeben.

Auch in der Schule blüht sie auf. Besonders liebt sie das Handballspiel. Ein Turnier in Heiden mit zahlreichen anderen Schulen steht bevor. Aber auch die Themenwochen begeistern sie – zuletzt besuchte ihre Klasse eine Schokoladenfabrik. Mathe war eine Herausforderung für sie, besonders das Malrechnen. Doch inzwischen hat sie es gemeistert – ein Beweis für ihren Ehrgeiz und ihre Entschlossenheit. Wenn sie auf Schwierigkeiten stösst, versucht sie sie eigenständig zu lösen oder holt sich gezielt Unterstützung. Ihre grösste Errungenschaft? Dass sie so schnell Schweizerdeutsch gelernt hat!

Foto: Polina zeigt stolz ihre Medaillen

Ein Zuhause, das Sicherheit gibt

Polina liebt ihr neues Leben in der Schweiz; vor allem die Sicherheit, die Sauberkeit und dass ihre Pflegefamilie ein Zuhause hat. Trotz allem, was sie erlebt hat, strahlt Polina Zuversicht aus. Sie sagt: "Das Leben ist schön." Und wenn sie an ihre Zukunft denkt, treibt sie der Satz an: "Das schaffe ich." Diese Geschichte zeigt, wie viel Hoffnung und Kraft in diesen Kindern steckt – und wie wichtig es ist, ihnen nicht nur Schutz, sondern auch Chancen für eine Zukunft voller Möglichkeiten zu geben.

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