Mit neunzehn allein nach Zürich
Wir treffen Ilse Hohl in ihrem 105. Lebensjahr in ihrem Haus in St.Gallen. Die Ärztin war bei den Anfängen des Vereins Heilpädagogischer Grossfamilien (VHPG, heute tipiti) mit dabei und half, manch Eine*n zu überzeugen, dass Grossfamilien für Kinder eine gute Alternative zum Heim sind.
Gesprächsaufzeichung: Thomas Graf und Rolf Widmer
Ich kam 1916 in Frankfurt zur Welt und wuchs in einer Grossfamilie auf. Drei Generationen wohnten unter einem Dach. Wir sassen zu zwölft am Tisch. Nach der Matura wollte ich mich für das Medizinstudium anmelden, galt aber als ein Viertel «nicht-arisch». Die Nürnberger Gesetze verboten es mir, Medizin zu studieren. So entschied die Familie auf den Vorschlag einer befreundeten Zürcher Familie hin, mich für das Studium in die Schweiz zu schicken. So reiste ich mit neunzehn Jahren alleine nach Zürich.
Der Weg in die Ostschweiz
1942, nach Studienabschluss, heirateten mein Mann und ich. Wir hatten uns während des Medizinstudiums kennengelernt. Ich war jetzt Allgemeinmedizinerin. Meine erste Stelle fand ich in der Tuberkuloseabteilung eines Berner Spitals, die nächste im Schwesternhaus des Roten Kreuzes in Zürich. Mein Mann wurde dann Chefarzt in St. Gallen. Ich war inzwischen als Hausfrau und Mutter von drei Kindern gut beschäftigt und unterrichtete nebenbei an Schulen Gesundheits- und Aufklärungslehre. Als unsere zwei Ältesten studieren gingen, empfahl mich eine Bekannte dem Chefarzt des Ostschweizer Kinderpsychiatrischen Dienstes. So kam ich als Assistenzärztin in die kinderpsychiatrische Beobachtungsstelle in Ganterschwil, wo Kinder aufgenommen, therapiert und individuell gefördert wurden. Danach wurden sie entweder zurück in die Familie integriert oder in einem Heim untergebracht.
Rolf Widmer war damals Sozialarbeiter und Heimleiter in Ganterschwil. Er erzählt: «Wenn ein Kind nicht zurück in die Familie konnte, wurde jeweils gefragt, welche Heime einen freien Platz hätten. Ich fand, das sei die falsche Frage. Stattdessen sollte man fragen: Was braucht dieses Kind jetzt? Ilse hat das sofort aufgenommen und viel Empathie für die Kinder gezeigt.»
Rolfs Idee der Heilpädagogischen Grossfamilien überzeugte mich: Dass junge Ehepaare mit eigener Familie bereit waren, noch vier bis fünf Kinder aufzunehmen. So entstand der Verein Heilpädagogische Grossfamilien, in dessen Vorstand ich dabei war. Diese Pflegeeltern waren grossartige Leute. Ich beobachtete, wie diese Kinder ein Zuhause bekamen und teils weniger auffällig waren. Gleichzeitig mussten Schulen gegründet werden, denn die meisten der Kinder benötigten individuelle Förderung. Viele konnten für ihre letzten Schuljahre in die öffentliche Schule integriert werden.
Interesse für junge Menschen und die Wandlungen in der Welt
Es interessiert mich bis heute, was in der Welt läuft und finde es enorm gut, dass sich junge Leute mehr für Politik interessieren. Heute engagiert sich tipiti auch dafür, junge Flüchtlinge aufzunehmen und zu fördern. Das ist grossartig und so wichtig. Ich wurde selber als junger Baum in einem anderen Land eingepflanzt – und nach so langer Zeit ist das hier Heimat. Und eine Heimat zu haben, ist natürlich auch das Bedürfnis der jungen Flüchtlinge. Mit Interesse und Bewunderung verfolge ich Rolfs Visionen und deren erfolgreiche Umsetzungen. Sein unermüdlicher Einsatz für Kinder und Jugendliche ist einmalig! Er ist für mich ein Vorbild und ihm gilt mein Dank. Ich wünsche ihm weiterhin Erfolg. Die heutige Gesellschaft steht – wie früher manche gewiss auch – vor enormen Herausforderungen. Ich hoffe, dass man einen Weg des Verstehens und Zusammenlebens ohne Hass und Verderben findet. Es gibt doch viele gute, vernünftige und hilfsbereite Menschen.