«Ich sage nicht: Pflegefamilie. Ich sage: meine Familie.»
Murtaza war sechzehn, als er vor dem Krieg in Afghanistan flüchtete. Er erzählt, wie er in die Schweiz, nach Trogen kam und heute bei Pflegeeltern lebt und eine Lehrstelle fand.
Eigentlich heisse ich Murteza. In Bern haben sie meinen Namen falsch geschrieben. Jetzt heisse ich im Ausweis Murtaza.
Wieso ich in die Schweiz gekommen bin? Weil in Afghanistan Krieg war, bin ich mit sechzehn geflüchtet. Ich hatte plötzlich die Idee, dass ich weg muss. Hab mir das Nötige gekauft, Kleider, mit dem Auto gings nach Pakistan, dann Iran, Türkei, Griechenland, Serbien und Kroatien, Ungarn, Österreich, Schweiz. Anderthalb Monate war ich unterwegs. Anfangs wollte ich nach Finnland, in die nördlichsten Länder von Europa. In Österreich war ich aber müde, kaputt. Besser, ich gehe in die Schweiz. Bei Altstätten kam ich über die Grenze, dann für zwei Monate in den Kanton Zug, von dort nach Rorschach in die Landegg, dort war ich vier Monate. Dann kam ich zu tipiti.
Die erste Zeit in Trogen war schwierig. Ganz weit weg von der Stadt. Ich war es gewohnt, in der Stadt zu leben. Ein paar Wochen musste ich Geduld haben, dann begann es, Spass zu machen. Mit den anderen Leuten, mit dem Dorf. Wir hatten Spiele, einen Billardraum, spielten Fussball. Am Anfang war es streng, dann war's super. Wir hatten auch jeden Tag Schule. Das hat mir sehr geholfen.
Da war ich etwa zwei Jahre lang. Bald fanden alle eine Wohnung. Ich suchte auch eine, wollte alleine wohnen. Ich ging zu Tschösi, meinem Betreuer: Hast du eine Idee? Er hatte eine Idee, eine Pflegefamilie. Ich wollte überlegen, er gab mir eine Woche Zeit. Ich sagte: Okay, Probebesuch, Gespräch, Abendessen, Kennenlernen… Ruedi, mein jetziger Pflegevater, fragte: Wann kommst du? Ich sagte: Nächste Woche. Das war im August 2018.
Ohne meine Eltern zu sein, war für mich kein Problem. Ich war früher zwar bei meinen Eltern, aber viel unterwegs, besuchte die Schule in Kabul. Meine Eltern fanden: Es ist besser, wenn du weggehst. Ich habe kein Heimweh, aber ich mache mir Sorgen wegen meiner Eltern. Bei Barbara und Ruedi zu wohnen, war eine gute Entscheidung, super Idee von Tschösi, mein Leben ist wie hundert Prozent ausgewechselt. Das ist wie eine Familie hier. Genau wie eine Familie, ich sage nicht: Pflegefamilie. Ich sage: meine Familie, meine Mutter. Ich fühle mich auch so.
Von hier konnte ich auch schnuppern gehen, als Kunststoffverarbeiter. Barbara kannte eine Person der Firma, hat angerufen und das organisiert. Die Firma Huber und Suhner hat mir gefallen, die haben mir eine Lehrstelle angeboten.
Man weiss nicht, was passiert im Leben. Ich wusste ja nicht, was da kommt. Ich wusste vorher nicht, was ich wollte, ich wollte einfach leben. Ausbildung war gar nicht so ein Thema. Ich suchte einfach ein Zuhause, wo ich besser leben konnte. Hier in der Schweiz muss man eine Lehre machen, ohne geht gar nicht. Jetzt bin ich im ersten Lehrjahr als Kunststoffverarbeiter. Ich besuche die Schule in Rapperswil, wir sind eine gute Klasse, ich gehe gerne in die Schule. Deutsch lernen ist für mich nicht so streng, wenn jemand kein Englisch kann, ist es schon streng. Englisch habe ich in Afghanistan in einem Kurs gelernt.
Wenn ich vom Arbeiten komme, gehe ich ins Fitnesstraining, früher fast jeden Tag, jetzt jeden zweiten – dann bin ich müde. Ich habe herausgefunden, dass ich am besten jeden Tag zwanzig Minuten lerne. Ein Tag Schule pro Woche ist nicht so viel.
In meinem Leben ist mir wichtig, dass man immer gesund ist, und dass ich etwas erreichen kann, eine Weiterbildung machen kann, ein Ziel erreichen und etwas gut machen. Ich habe keine Angst vor diesem Corona, ich fühle mich nicht so schlecht, deshalb, weil ich es gewohnt bin aus dem Krieg, wenn Leute sterben. Ich bin glücklich, dass wir alle gesund sind, meine Familie hier und in Afghanistan, auch meine Freunde, das ist sehr wichtig für mich.
Mein Leben in zehn Jahren? Gute, aber schwierige Frage. Es kann viel sein. Dass ich ein schönes Auto habe, einen Range Rover. Ein eigenes Haus möchte ich kaufen mit Swimmingpool, Fitnessraum, schönem Balkon, Sauna. Man weiss nicht, was im Leben passiert. Man weiss nicht, ob man noch lebt. Aber das ist ein Wunsch. Wenn ich ihn erreiche, bin ich glücklich. Wenn nicht, bin ich trotzdem glücklich.