Der Berufseintritt, ein kritischer Lebensschritt
Die Nachbetreuung ist beliebt. Das Angebot der tipiti Oberstufenschule Wil baut auf gewachsenes Vertrauen und begleitet Jugendliche weit über deren Schulzeit hinaus. Denn der Übergang in die Berufswelt hat bei uns höchste Priorität.
Von Damaris Diethelm-Leicht, Sozialpädagogin
Drei Oberstufenjahren genügen nicht immer, alle für den Berufseintritt erforderlichen fachlichen, sozialen und persönlichen Kompetenzen aufzuarbeiten. Die Berufswelt konfrontiert die Jugendlichen zudem wieder vermehrt mit ihren Defiziten. Sie müssen sich mit Kollegen und Kolleginnen messen und vergleichen lassen, welche aus den öffentlichen Oberstufenschulen kommen. Unsere Jugendlichen verlassen den Schonbereich der Sonderschule, ihren gewohnten Bezugspersonenkreis, müssen plötzlich selbstständiger und selbstverantwortlicher sein. Der erstmalige Berufseintritt ist ein kritischer Punkt im Lebenslauf eines oder einer jungen Erwachsenen. Er erfordert emotionale Stabilität. Die Schulen geben ihre Verantwortung ab und neue Zuständigkeiten entstehen.
Die Jugendlichen weiter begleiten
Unser Nachbetreuungs-Angebot greift hier ein, unterstützt, vernetzt und begleitet. Wir kennen die Stärken und Schwächen der Jugendlichen, ihr Umfeld. Die Jugendlichen kennen uns, haben Vertrauen aufgebaut, eine Zusammenarbeit ist entstanden. Daran knüpfen wir in der Nachbetreuung an. Dabei spielt es keine Rolle, ob die oder der Jugendliche das Angebot einmal, mehrmals oder über mehrere Jahre hinweg in Anspruch nimmt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es manchmal mehrere Anläufe braucht, bis Jugendliche ihren Platz in der Erwachsenenwelt gefunden haben. Ehemalige, die im zweiten Arbeitsmarkt eine Ausbildung machen, nutzen oft ein vergleichbares Angebot der neuen Ausbildungsinstitution.
Berufswahl hat hohe Priorität
Deshalb hat der Berufswahlprozess bei uns einen hohen Stellenwert. Er ist fest in den Schulalltag integriert, sei es im individuellen Coaching der Jugendlichen oder in vorbereiteten Unterrichtseinheiten gemäss St. Galler Lehrplan. Wir schulen in der tipiti Oberstufe Wil nicht nach einem starren Stundenplan. So haben die Jugendlichen je nach Stand im Prozess die Möglichkeit, mehr oder weniger Stunden Berufswahl zu besuchen. So profitieren die Schülerinnen und Schüler vom individuellen Coaching bei der Lehrstellensuche und besuchen das Fach Berufswahl. Hier schreiben sie Bewerbungen, telefonieren oder bereiten sich auf Vorstellungsgespräche vor.
Zwei Mal im Jahr überprüfen wir mit dem kantonalen Instrument «Stellwerk», wo unsere Schülerinnen und Schüler bei den fachlichen und methodischen Kompetenzen stehen, welche in den anderen Schulfächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen erarbeitet werden. Damit erhöht sich die Chancengleichheit bei der Lehrstellensuche gegenüber Jugendlichen aus der öffentlichen Oberstufe. Unsere Schulstruktur ermöglicht uns mit ihren interaktionellen Lernformen, den Lernfeldern und der Tagesstruktur, als Team aus den Fachbereichen Pädagogik, Heilpädagogik und Sozialpädagogik eng zusammenzuarbeiten; wir sind alle in den Schulalltag integriert. Die Informationswege im Team sind kurz. So können wir die Jugendlichen im individuellen Coaching flexibel und individuell fördern.
Manchmal platzt der Traum vom Traumberuf
Die Jugendlichen starten in die erste Oberstufe mit ihren Traumberufen und idealen Vorstellungen vom Erwachsenenalter. Durch den strukturierten Berufswahlprozess können wir den Bogen von dem, was aufgrund der Stärken und Schwächen des Jugendlichen möglich ist, zu den Anforderungen der Berufswelt spannen. Die Jugendlichen dürfen weiter an ihrem Traumberuf festgehalten, nur müssen wir in manchen Fällen die Zeitachse, in der das Ziel zu erreichen ist, verlängern. Somit platzen manchmal auch Träume und Vorstellungen – jene der Jugendlichen, aber auch jene der Erziehungsberechtigten. Wir diskutieren diesen Prozess in den regelmässigen Standortbestimmungen mit dem Helferkreis und den Jugendlichen und passen die individuelle Förderplanung regelmässig an. Neben diesen Besprechungen tauschen wir uns mit den Eltern/Erziehungsberechtigten je nach Bedarf am Telefon weiter aus.
Alle Möglichkeiten praktisch einbeziehen
Die Jugendlichen lernen den ersten Arbeitsmarkt und die Angebote des zweiten Arbeitsmarktes kennen. Wir ziehen beide Angebote der Berufswelt in Betracht, die Möglichkeiten der Jugendlichen erweitern sich dadurch. Der für uns zuständige IV-Berufsberater besucht unsere Schule mindestens zwei Mal jährlich und lernt alle Jugendlichen kennen. Wir besuchen regelmässig auch die öffentliche Berufsberatung und das BIZ mit den Jugendlichen, falls gewünscht finden Berufsberatungen statt. In verschiedenen Praxismodulen lernen die Jugendlichen schrittweise die Berufswelt kennen. Beispielsweise beim Besuch einer Berufsschule, bei Firmenbesichtigungen, bei der Besichtigung von IV-Institutionen, bei Schnupperlehren oder beim Praxiseinsatz.
Den Weg müssen die Jugendlichen selber gehen
Wir bereiten die Jugendlichen also für den Übertritt in die Berufswelt auf verschiedenen Ebenen vor; den Weg müssen sie aber selber gehen. Die Nachbetreuung schliesst den Kreis des Berufswahlprozesses und bietet die notwendige Unterstützung, damit der Eintritt in die Berufswelt gelingen kann.
Einige Zahlen und ein Geschenk
Im vergangenen Jahr beendeten fünf Jugendliche die obligatorische Schulzeit und starteten in die Berufswelt. Sie traten ins Berufsvorbereitungsjahr der GBS St. Gallen, in die Lehre als Gärtner EBA und Unterhaltspraktikerin EBA, in die Vorlehre als Assistentin Gesundheit und Soziales EBA und ins Vorbereitungsjahr für die Lehre zum Drucktechnologen. Ein ehemaliger Schüler dieser Gruppe besucht bei uns die nachschulische Begleitung an einem Abend in der Woche, zwei weitere Ehemalige und deren Bezugspersonen nutzen das sozialpädagogische Nachbetreuungsangebot.
Die Nachbetreuung ist, neben dem individuellen Coaching und verschiedenen Berufspraxismodulen während der Oberstufe, eines der wichtigsten Angebote der tipiti Oberstufe Wil. So haben unsere ehemaligen Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit – in Absprache mit dem Ausbildungsbetrieb eventuell die Pflicht –, an einem oder zwei Abenden in der Woche Schulstoff aus der Berufsschule aufzuarbeiten, sich auf Prüfungen vorzubereiten oder Probleme im persönlichen und beruflichen Umfeld zu bearbeiten.
Während der vergangenen elf Jahre nahmen im Schnitt die Hälfte der ehemaligen Schülerinnen und Schüler mehrmals und oft über mehrere Jahre hinweg die Nachbetreuung in Anspruch. So können wir daran teilhaben, welche Wege die Ehemaligen gehen. Auch 2016 wurde unser Team an Lehrabschlussfeiern eingeladen; alle unsere Ehemaligen erhalten übrigens bei bestandenem Abschluss von uns ein kleines Präsent.