Kernkompetenzen für die Berufswelt
Interview mit Lukas Ammann, Primarlehrer, Berufswahlcoach und Theaterpädagoge an der tipiti Gesamtschule Trogen
Wie wichtig ist es euch, eure Schüler in die Berufswelt einzugliedern?
Die berufliche Eingliederung ist ein zentrales Thema unserer tipiti Oberstufe. Es ist uns wichtig, dass jeder Jugendliche nach der obligatorischen Schulzeit entsprechend seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten den Einstieg in die Berufswelt schafft. Bereichernd für den Berufswahlprozess ist auch unser erlebnispädagogischer und handlungsorientierter Unterricht. In Aktivitäten wie Trekking, Kanutour, Schwitzhütte, Schneelager oder Bachwanderung lernen wir unsere Jugendlichen von einer ganz anderen Seite kennen als im Schulzimmer. Sie können dabei ihre Schlüsselkompetenzen erweitern: Durchhaltevermögen, Hilfsbereitschaft, praktische Problemlösestrategien usw.
Wie funktioniert berufliche Eingliederung?
Die Berufswahl beginnt bereits in der ersten Oberstufe. Die Jugendlichen beginnen mit einer Standortbestimmung, setzen sich mit ihren Stärken und Fähigkeiten auseinander und lernen erste Berufsfelder kennen. In der zweiten Oberstufe ist der Schwerpunkt das Kennenlernen der Berufswelt. Dabei vergleichen sie über praktische Berufserkundungen die Anforderungen der Berufe mit ihren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ein Teil dieses Prozesses ist ein Praktikum. Sie verbringen einen Tag pro Woche während drei bis sechs Monaten in einem Betrieb und lernen so den Berufsalltag kennen. In der dritten Oberstufe geht es darum, einen Ausbildungsort zu finden, der ihren Bedürfnissen entspricht.
Was ist bei euch anders als bei anderen Schulen?
Im Vergleich zu den öffentlichen Schulen haben der Berufswahlunterricht und die berufliche Integration einen grösseren Stellenwert. Der zeitliche Aufwand und der Anteil der eins-zu-eins-Betreuung sind wesentlich grösser. Die Jugendlichen können viel mehr praktische Erfahrung sammeln und werden dabei von der Schule begleitet. Es werden auch Fähigkeiten wie das Telefonieren, das Zurechtfinden im Öffentlichen Verkehr, Vorstellungsgespräche intensiv geübt. Zudem ist der Austausch mit Eltern und Lehrbetrieben zentral.
Speziell an unserer Schule ist auch das Schultheater. Hier lernen die Jugendlichen auf spielerische Art Auftrittskompetenz, können Hemmungen abbauen, stärken Konzentration und Einfühlungsvermögen und trainieren so ganz nebenbei für später, für die Berufswelt.
Seit etwa sechs Jahren bieten wir Schulische Nachbetreuung. Wir begleiten Jugendliche, die im ersten Arbeitsmarkt eine Lehre beginnen. Sie kommen einen Tag pro Woche zu mir ins tipiti Büro in St.Gallen; wir arbeiten an ihren Hausaufgaben, lernen auf Prüfungen, schreiben Arbeiten etc. Ganz wichtig ist die Vernetzung zwischen Lehrbetrieb, Schule und Eltern – vor allem bei Schwierigkeiten. Schon oft half dies, ein Lehrverhältnis weiterzuführen statt abzubrechen.
Ein Unterschied mehr zur öffentlichen Schule ist die Unterstützung der Eltern im Berufswahlprozess. Für viele Eltern ist es eine grosse Entlastung, dass ein Grossteil der Berufswahl über die Schule organisiert und ausgewertet wird – besonders auch, wenn berufliche Lösungen in Zusammenarbeit mit der IV angestrebt werden.
Welche Erfahrungen macht ihr, machen die Jugendlichen?
Wir erleben immer wieder, wie wichtig die erwähnten Schlüsselqualifikationen bei der Lehrstellensuche sind. Es gibt viele Lehrbetriebe, denen ein zuverlässiger, anständiger und fleissiger Lehrling wichtiger ist als ein Jugendlicher, der lediglich über gute Schulnoten verfügt. Ein guter Kontakt zu den Lehrbetrieben, individuelle Begleitung sowie die schulische Nachbetreuung tragen ebenso zu einem Gelingen der beruflichen Integration bei.
Welche Wirkung hat das Konzept? Erhaltet ihr Feedbacks?
Durch die frühe Auseinandersetzung mit der Berufswelt und der praktischen Erfahrungen haben unsere Jugendlichen teilweise einen Vorsprung gegenüber Schülern der öffentlichen Schule. Sie wissen um die Wichtigkeit von Schlüsselkompetenzen wie Anstand, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Hilfsbereitschaft etc. Dies führte schon oft dazu, dass ein Lehrverhältnis trotz schwächeren Schulnoten zustande kam. Vor allem im Praktikum können unsere Jugendlichen über einen längeren Zeitraum ihre Stärken zeigen.
Lässt sich diese Wirkung messen?
In den letzten fünf Jahren begannen von 25 Jugendlichen nach der regulären Schulzeit 23 eine berufliche Ausbildung. Zwei Jugendliche traten in ein zehntes Schuljahr des Kantons über. Wir haben neun dieser Jugendlichen während einem bis zu drei Jahren schulisch nachbetreut. Von diesen neun Jugendlichen schlossen fünf ihre Ausbildung ab, drei sind noch in der Ausbildung, ein Schüler brach die Lehre ab, hat aber schon eine Anschlusslösung.
Gibt es einen Wunsch für die Zukunft?
Wir wünschen uns, dass die Grundausbildung für praktisch begabte Schüler weiterhin möglich ist. Die Berufsschulen sollten vermehrt auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten unserer Schüler eingehen, wenn zum Beispiel jemand eine Leseschwäche hat oder ähnlich.
Schüler, die ihre Ausbildung im Geschützten Rahmen absolvieren, sollten wieder eine zweijährige praktische Ausbildung machen können. Dies erhöht ihre Chance auf eine reguläre Ausbildung im Arbeitsmarkt. Die aktuelle Lösung der IV mit einem einjährigen Ausbildungsjahr wird unseren Schülern nicht gerecht.